Tino Falke: Spinnenpiñata

Buchcover von Tino Falke: Spinnenpinata

Hrsg. und verfasst von Tino Falke im Hybrid Verlag

Inhalt:

Kommentar zum Band:

Tino Falke hat all seine bisherigen Kurzgeschichten in einem Band zusammengefasst. Dabei bedient er die unterschiedlichsten Genre: Von Science-Fiction, Solar Punk über Fantasy und Urban Fantasy zu Contemporary und Horror bis hin zu Slam Poetry.

Naturgemäß fällt es nicht leicht, etwas über eine genreübergreifende Kurzgeschichtensammlung zu schreiben. Doch weil es nicht besonders viele Anthologien in der Phantastik gibt und die wenigen leider nur selten in der Öffentlichkeit bekannt sind oder intensiv besprochen werden, ist es umso wichtiger, den Wert und die Qualität guter Kurzgeschichten und ihrer Sammlungen hoch zu halten.

Auch wenn alle Geschichten in Spinnenpiñata aus einer Feder stammen, so steht jede doch für sich, findet jede in einem schmalen Zeitfenster in ihrer ganz eigenen Welt statt. Eine Welt, in die man von Tino Falke mal geschubst, mal langsam hinein begleitet wird.

Alle Geschichten in einer Bewertung zusammenzufassen, wäre unsinnig und ihrer nicht würdig, deshalb gehe ich unten auf jede einzelne kurz ein. Was alle Geschichten aber eint, ist neben ihrer Autorenschaft das feine Gespür des Autors, wie man schnell auf den Punkt kommt, gründlich die Seelen der Charaktere entblößt und zeitgleich die/den Leser*in einen Teil seiner temporären Welt werden lässt. So sehr, dass mir die Ober- und Untertöne jeder Geschichte (ich empfehle, sich zwischen jeder Geschichte ausreichend Zeit zu nehmen) noch lange nachdem ich das Buch wieder beiseite gelegt hatte, im Kopf nachhallten und mich über den Zustand der Gesellschaft im Allgemeinen, das Verhalten anderer nicht-fiktionaler Menschen im Besonderen und nicht zuletzt über mich selbst nachdenken ließen.

Tino Falke versteht es in seinen Kurzgeschichten einerseits die/den Leser*in in fremde Welten zu entführen, sie/ihn glänzend zu unterhalten und andererseits den Schleier von mehr oder minder Verborgenem unserer realen Welt zu heben und damit zum Nachdenken, bestenfalls zum Handeln zu bewegen, um es selbst ein bisschen besser zu machen. So, wie es ein guter Geschichtenerzähler eben tun sollte.

Mission accomplished!

Kurzeindrücke zu den einzelnen Kurzgschichten

Avalanche Rocks

Einzelgänger*innen sind oft auch in einer Gruppe von Einzelgänger*innen einsam und verloren, aber manchmal kann es helfen, sich auf andere einzulassen und sich zu öffnen. Tino Falke nutzt nicht das erste Mal die Kulisse eines Vergnügungsparks, um von tiefen Abgründe zu erzählen.

 

#WeAreMedusa

Auch Göttinnen und Götter benehmen sich rücksichtlos. Was, wenn zudem noch der social media-Mob eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt? Dann haben wir im Grunde genau die Verhältnisse, die unseren nicht-fiktionalen Alltag prägen. Zuerst war ich etwas irritiert, dann neugierig und amüsiert, bis mir dann das Lächeln einfror und Wut aufstieg, ob er Erkenntnis, wie genau Tilo Falke hier brutale social media-Mechanismen wiedergibt.

Golems

Eine kurze Momentaufnahme während eines Humanoiden-Exodus, scheint wie der Prolog eines globalen Phänomens zu sein, bei der Totes zum Leben erweckt wird. Ohne den typischen Zombie-Apokalypsen-Terror heraufzubeschwören, kratzt Tino Falke an etwas Mächtigem, das für die Menschheit wahrscheinlich nichts Gutes bedeutet.

Millennial Mammut Crash Derby 3000

Wenn dystopische Tendenzen in einer utopischen Welt Einzug halten, kann die selbstzerstörerische Verzweiflungstat einer verantwortungsbewussten Wiederentdeckerin umweltzerstörerischen Menschheitserbes die unerwartete Lösung bringen.

Privates Journal meiner Forschungsexpedition mit Herrn Dr. Konrad Henneborn

Wissenschaftler*innen streben nach Antworten, benutzen auf ihrem Weg dahin aber nicht immer den Pfad der Rechtschaffenheit. Geht es um eine seltene Spezies, kommt ein Generationenkonflikt und eine Prise Wahnsinn hinzu, wird’s merkwürdig und erinnert an die phantastischen Reiseberichte von Edgar Allan Poe.

Schnapp sie alle!

Die immer rasanter werdende Kurzgeschichte als Reminiszenz an PokemonGO fragt nicht, ob die Handlung eskaliert … sondern wie?! Von der harmlosen Vorstadtstory zum Hacker-Thriller mit globalem Ausmaß!

Der Weg nach El Hurrado

Wie einer von Tino Falkes offenbar immer wiederkehrenden Lieblingsorten auch in einer weit entfernten Zukunft zu Freude und Harmonie führen kann, zeigt er mit einer kleinen Geschichte zweier Brüder, auf der Suche nach in vielerlei Hinsicht verlorener Zeit.

Leviathana

“Es gibt Dinge im Leben, die kann man einfach nicht vorhersehen.”
Wie aus einem Traum unvermittelt ein Alptraum werden kann und dann zu einer Bestimmung wird, lehrt uns das Meer selbst. So, wie es auch keine Schandtat vergisst und für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen pflegt.

Im Bärental

Eine Geschichte, so ganz anders. Es empfiehlt sich, die ersten Sätze mehrmals zu lesen, bis man allmählich begreift, wie anders diese Geschichte ist, wo Menschen nicht mehr als als Statisten sind, während Bären mit dem Zeitenwandel eher suboptimal klarkommen.

Hutmachers Laterne

Wenn Einsamkeit auf Wahnsinn trifft,
Verzweiflung ohne Halt und Grenzen,
Die Rettung ausbleibt auf hoher See,
Ist’s vielleicht der letzte Gruß, der Gruß vom Gift.

Dass Tino Falke vermeintlich schön-spaßige Orte wie Vergnügungsparks in etwas Desaströses verwandeln kann, hat er mit Crown Kingdom bereits eindrücklich bewiesen. In dieser Kurgeschichte potenziert er auf lyrische Art gleich zwei Orte ins “Horreske”: den einsam-rauhen Leuchtturm und die muffig-dunkle Hutmacherwerkstatt. Kein noch so normaler Ort scheint vor ihm sicher 😉

Von Herzen

Wenn eine altägyptische Göttin erkennen muss, dass sie jahrtausdendelang eine sich nach Zuwendung sehnende Sklavin eines Schakals war, ist es Zeit, nicht mehr auf ein eigenes Leben zu verzichten, nur weil man das Dunkel in den Herzen der Menschen früher erkennt als andere.

RealDora

“nackt, wie die Fabrik sie schuf”

Während der Unterschied zwischen einem Schlachthof und einer Montagefabrikhalle zusehends verschwimmt, gelangt eine junge Androidin zu der niederschmetternden Erkenntnis, dass sie erschreckenderweise wie eine junge Menschenfrau behandelt wird.

Die Welt hält für Maschinen offenbar weniger Misshandlungen bereit als für Frauen.

MOLOCH

Eine archaische Quest mit einem vermeintlichen Helden, der keiner ist, einem überlieferten Monster, das keiner sieht und einer neuen Heldengeneration samt Überlieferer.

Lo-fi chill hop beats to hope/keep on fighting to

Ooops, ich bin wohl auch Vintager, ohne es bisher bemerkt zu haben. Umso wichtiger ist es, dass die “Alten” die “Nova Punks” unterstützen, damit nachfolgende Vintager ihre eigenen Idole feiern können, sonst wird die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer größer und die Tradition ausgehölt. Insbesondere weil längst verstorbene Musiker*innen es sicher gefeiert hätten, wenn neue Künstler*innen ihr Erbe fortentwickeln. Manchmal muss die Kontinuität gestört werden, um Neuem Raum zu geben.

Sprache, Literatur und Musik sind nicht konservierbar. Sie leben nur dann fort, wenn sie sich weiterentwickeln.

Es geht nicht um Alt oder Neu. Es geht darum, wie kann Alt mit Neu!

D15 PERDO

Wenn das Schicksal vielleicht doch gesteuert wird und einfach nur das Resultat unbedarfter Schmierereien auf einem Bus ist.

Ich kann Stephen King schmunzeln sehen.

👀

“Mit schimmelblinden Augenhöhlen starrt er weiter von seinem Fensterbrett.”

Wenn durch Wegsehen der Blick auf ein Spiegelkabinett der eigenen Seele fällt.

Auf gute Nachbaft.

Mandragora Schmidt gegen den Kristall der Zeit

Wählt die Namen Eurer Babys weise!

Fiktion hat beizeiten ganz reale Konsequenzen. Wer das nicht versteht, hat die erschaffende und zerstörende Macht von Geschichten nicht verstanden.

Willkommene Narben

Es ist nicht immer die beste Idee, Verborgenes aus der Vergangenheit an die (Haut-)Oberfläche zu holen. Schon gar nicht, wenn so das Dunkle aus der Zukunft gezerrt wird.

Chips Chips

Sein Leben zu ändern, obliegt nie anderen und schon gar nicht Kopien des eigenen Ichs. Die Lösung schlummert tief in einem selbst, wo es bei den weniger Mutigen auch für immer beibt.

NPC

Das Leben ist zu kurz, um es mit NPCs aus der Kindheit/Jugend zu vergeuden. Neue PCs warten an jeder Ecke.

“Und dass diese Entwicklung so viele Jahre nach unserem Abschluss völlig in Ordnung ist.”

Pferdemädchen

Die Bürde einer Familientradition lastet oft schwer auf dem eigenen Rücken. Ganz besonders, wenn der Rücken sehr lang und groß ist und keltischen Pferdedämonen gehört, die einfch nur ihr eigenes Leben leben möchten.

Wenn man selbst nicht den Mut aufbringen kann, aus seinem erdrückenden Traditionsgeflecht zu entfliehen, kann man jedem nur wünschen, Freunde zu haben, die diesen Mut haben.

Sepia

Was sich hinter diesem Kurzgeschichten-Titel verbirgt, die Slam Poetry und damit Lyrik ist, erschließt sich gleich nach den ersten Worten. Wo man vermuten konnte, der Text wird von einem Kopffüßer erzählen, ist dann doch der im Duden beschriebene Farbton “von stumpfem Grau- oder Schwarzbraun” gemeint. Und dass es nicht um Farbe, sondern um einen ebenfalls stumpfen Gemütszustand geht, kann wohl kaum einem nach den den ersten Zeilen entgehen.

Die Moral von der Geschicht’ vorweggenommen (Spoiler-Alarm): Im besten Fall wird aus Verzweiflung Hoffnung, aus Einsamkeit Selbstsicherheit.

Dass ein das eigene Selbst entzweireißender Verlust nicht das Ende von allem sein muss, lässt uns Tino Falke durch diesen Text erfahren. Tief dürfen wir in seine Gefühle, die destruktiven und auch konstruktiven, eintauchen. Er schubst uns mit gedrückter FastForward-Taste durch eine Achterbahn seiner eigenen Gefühle, bei denen man sich nicht selten wiedererkennt. Aber er geht sogar noch einen Schritt weiter, denn er lässt uns auch an der Reflexion über seine Gefühle teilhaben: Ein Seelen-Entblättern in zweiter Potenz also. Der Nukelus des Texte: Nach einer Beziehung ist er nun zerrissen, halbiert und leer. Doch in seiner verantwortungsbewussten Art lässt er uns nicht in diesem deprimierenden Zustand verharren, sondern berichtet gedichtet von einem Weg hindurch, denn es geht immer irgendwie weiter … und das hat seine innere Logik:

Denn trotz aller Analogien von Zerrissenheit und Verlust, so ist man durch eine Beziehung zu einem anderen Menschen doch immer mehr als zuvor. Ganz gleich, ob der Mensch einen absichtlich oder unabsichtlich verlässt oder idealerweise bleibt. Wie nach einem Verlust mehr übrig sein kann, steht im krassen Widerspruch zu jeder Subtraktion, die man von der Grundschule an gelehrt bekommt. Vielleicht nur mit Quantenphysik erklärbar ist aber der/die Einzelne durch die Begegnung mit einem/einer anderen Einzelnen immer verändert und auch angereichert.

Wenn ich eine Grundlage der Quantenphysik richtig verstanden habe, so “entscheidet” sich ein Quantenteilchen erst durch die beobachtende Begegnung für einen Zustand, wo zuvor mehr als ein Zustand möglich war. Bricht die Begegnung ab, verlässt uns also nur der/die Beobachter*in und man wird wieder zu etwas, das mehrere Zustände sein kann plus der Gefühle und Erinnerungen an das Zuvor. Das gibt doch irgendwie Hoffnung.

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