Exodus Nr. 49 – 03-2025

Cover: Cuculum

Hrsg. von René Moreau, Heinz Wipperfürth, Hans Jürgen Kugler

Inhalt:

Stories

“Die Galerie” – Cumulus

Grafik & Illustration

  • Nicole Erxleben
  • Mario Franke
  • Thomas Franke
  • Gerd Frey
  • Niklas Peter Robin Kappenstein
  • Detlef Klewer
  • Andreas Möller
  • Jaana Redflower
  • Marek J. Sulewski

Comic

  • Kostas Koufogiorgos: Fernsehabend

Redaktionelles

  • Unsere Seite 3: Kurt Vonnegut Jr. – Zitat
  • Editorial
  • Impressum und Bezugsmodalitäten
  • Personalia – alle Namen in dieser Ausgabe

Kommentar zum Heft:

Alle Bilder sind, wenn nicht anderweitig ausgewiesen, mit Midjourney erstellt. Die Prompts finden sich in den Bildbeschreibungen.

Illustrationen zu den Kurzgeschichten

Quelle: Midjourney/ Ralf H. Schneider

Kurzeindrücke zu den einzelnen Texten

Blumen für Lisa-9
von Uwe Post

Wie verändert sich die Gesellschaft, wenn humanoide Roboter nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sind? Wenn also der Turing-Test die physische Welt der Körperlichkeit erreicht? Was macht das mit menschlichen Beziehungen? Wie verändern sich Familien? Wie verändert sich das Sexualleben? Was macht das mit ganzen Gesellschaften?

Uwe Post lässt Lisa-9, einen nach einem 14-jährigen (*) Mädchen nachgebildeten Roboter von einem Vater in die eigene Familie bringen. Die Gründe sind vielfältig und doch nicht vollständig transparent. Vordergründig soll Lisa-9 dem menschlichen Sohn Tim(o) eine Schwester sein. Doch, dass da noch mehr sein muss, lässt vor allem die Reaktion der Mutter vermuten. Die Jahre vergehen, die Menschen werden älter und die Familienstruktur wandelt sich. Nur Lisa-9 bleibt gleich.

Wie schon bei allen anderen technologischen Innovationen der Menschheitsgeschichte, bergen nicht sie selbst die eigentliche Gefahr, sondern der Umgang des Menschen mit ihnen. Das gilt auch oder sogar insbesondere mit Technologien, die das Menschliche zu simulieren imstande sind. Noch ist die Technik nicht so weit, uns Roboter anzubieten, die von Menschen nicht zu unterscheiden sind. Das, was wir aber aus einer solchen Technologie machen würden, können wir heute bereits in Echtzeit erleben, wenn wir die Entwicklung von LLMs und KI betrachten: Wie sich heute schon der Gebrauch und Missbrauch künstlicher Intelligenz entwickelt, so verändert sich bei Uwe Posts Science-Fiction-Kurzgeschichte auch der zunächst unbedarfte, naive Umgang mit Lisa-9 rasch und vollzieht fast unbemerkt sein zerstörerisches Werk.

(*) Nach einem Kommentar von @achimstoesser kommen mir leichte Zweifel, ob Lisa nicht doch erst 9 Jahre alt sein könnte. Sie wurde zwar zum Beginn der Geschichte vor 14 Jahren erbaut, soll aber nur etwas älter als der damals gerade mal fast 8 Jahre alte Timo sein. Dieser ist allerdings noch im Kindergarten, obwohl er eigentlich im Grundschulalter (sofern die Geschichte im zukünftigen Deutschland spielen soll) wäre. 

Viele Menschen (womöglich mehr Männer als Frauen) neigen bei ihren fahrbaren Untersätze zur Anthropomorphisierung. Sie geben ihrem Auto ein Geschlecht (meist weiblich), hegen und pflegen es, streicheln es, versorgen es nur mit den besten Flüssigkeiten und Verbrauchsbestandteilen, verbringen sehr viel Zeit und teilen sogar die intimsten Gedanken mit ihm/ihr. Manche überschreiten gar die schmale Grenze zur Objektophilie.

Wie der nächste Schritt bei autonomen Fahrzeugen mit integrierter KI sein könnte, zeigt uns Johann Christian Lotter in seiner Very-Near-Fiction-Kurzgeschichte „Eva“. In einer unheiligen Kombination aus Stephen Kings „Christine“ und Arthur C. Clarkes „HAL 9000“ muss Klaus, der Protagonist der Geschichte, mit seiner Auto-KI “Eva” nicht nur die Grenzen(losigkeit) von in Maschinen integrierter Künstlicher Intelligenz erfahren, sondern auch, dass der Mensch in einer von Technik dominierten Gesellschaft immer weniger zählt. Im Zweifels- (Katastrophen-) Fall gilt es eher den möglichen Schaden zu minimieren als ein Menschenleben zu retten. Womöglich kommt das der/dem ein/en oder anderen Leser/in bekannt vor. Schon seit längerem verschieben sich in der nicht-fiktionalen Welt die Prioritäten unserer Werte und der „neue“ Zeitgeist erscheint uns schon gar nicht mehr befremdlich:

Effizienz steht eben vor Empathie.

Die Quelle
von Marco Rauch

Die letzten Kämpfe der Menschheit werden wohl um Nahrung und Wasser geführt werden. Wenn die anhaltende Erderwärmung zu immer mehr Wasserknappheit führen wird, Ernteausfälle in Hungersnöte resultieren, unsere Energieversorgung zusammenbricht und der Mensch nur noch um die nackte Existenz kämpft, werden die letzten Überlebenden sich nicht mehr den Luxus von Moral und zivilisatorischen Werte erlauben können.
So zumindest legt es Marco Rauch in seiner fatalistisch-dystopischen Kurzgeschichte “Die Quelle” an. Während der Titel eigentlich verheißungsvoll einen Anfang und neues Leben suggeriert, schrumpft eine kleine Gruppe in vermeintlich sicherer Abgeschiedenheit bei verzweifelt geführten brutalen Kämpfen um simples Wasser nach und nach. Sie halten am Leben fest und ihre einzige (versiegende) Hoffnung ist die besagte Quelle hinter ihrem Haus.

Mit schonungsloser Brutalität schildert der Autor, wie Menschen innerhalb kürzester Zeit ihre Menschlichkeit ablegen, obgleich ihr Ende unausweichlich ist. Nicht wirklich eine Feelgood-Geschichte, nichts für empfindsame Leser*innen und durchaus eine Triggerwarnung wert.

Die Welle
von Alexa Rudolph

Eine Erde, auf der es sich nicht mehr wirklich gut leben lässt und die es nicht mehr wirklich zu retten lohnt. Was, wenn sich die jüngere Generation mit den katastrophalen Zuständen einer sterbenden Welt arrangiert? Was, wenn Naturkatastrophen alltäglich sind und resignierend als Randnotiz wahrgenommen werden? Was, wenn jegliche Hoffnung weggespült wurde?

Alexa Rudolph erzählt in verstörend-dystopischer Weise aus dem Leben einer jungen Frau, die weder einen Platz in ihrer Familie, noch auf dieser Erde hat.

Der beste Roman aller Zeiten
von Uwe Hermann

Die Ängste, Bedenken und Kritik der Menschen, vor allem derjenigen, die sich mit ihrer Kreativität ihren Lebensunterhalt verdienen, dass Künstliche Intelligenz sie und ihre Werke ersetzt oder bald ersetzen wird, sind alles andere als unbegründet. Insbesondere KI-Produkte, die mit Kunst in der digitalen Sphäre und der Schriftstellerei konkurrieren, können immer schwieriger von echter (menschlicher) Kunst unterschieden werden. Ein Faktor, ob derlei Produkte die menschliche Kunst verdrängen wird, ist die Öffentlichkeit, die Kundschaft.
Was, wenn es uns Menschen nicht mehr wichtig ist, woher Kunst kommt?

Uwe Hermann erzählt in seiner Kurzgeschichte, welche Phasen Künstler in ihrer Verzweiflung durchlaufen und wie eine kreative Lösung entstehen kann, aber auch, welche Phasen eine Künstliche Intelligenz durchläuft und wie sie mit derlei Lösungen kreativ umgeht. Hermann zeigt auf, dass es auch in scheinbar ausweglosen Situationen, Möglichkeiten gibt, deren Konsequenzen allerdings nicht immer den eigenen Wünschen entsprechen.

Driving Tomorrow
von Andreas Eschbach

Der Wandel unserer Mobilität verändert schon immer Berufe und beeinflusst persönliche Schicksale. Wo einst Berufe existierten, die mit Kutschen, Fuhrwerken und Pferden ihren Lebensunterhalt verdienten, verdrängten Straßenbahnen und Automobile deren Branchen. Wo menschliche Fahrer_innen zum Betreiben von Fahrzeugen erforderlich waren, werden zunehmend autonome und emotionslose Maschinen entwickelt, die statt eines Menschen Sensoren, Algorithmen und KI dazu befähigen, die Funktionen zu erfüllen, um Personen und Waren zu transportieren.
Berufsfahrer_innen werden somit immer überflüssiger und verlieren ihre Arbeitsstellen.
Andreas Eschbach wirft in einer melancholischen Kurzgeschichte einen Blick auf das Dasein und die Gefühlswelt eines in dieser Branche nutzlos gewordenen Menschen, zeigt aber zugleich, wie irrational menschlich eine einfühlsame KI sein kann.

Writing Tomorrow
von Attila Geole

Was, wenn das ohnehin harte und frustrierende Business als Schriftsteller*in vollends zur Erfolglosigkeit verdammt ist? Was, wenn die Entwicklung KI-generierter Texte in allen Lebensbereichen etabliert ist und menschliches Schreiben nicht nur ineffizient, sondern auch schlechter und unerwünscht ist?

Writing Tomorrow nimmt sich einer dystopischen Zukunft an, in der diejenigen, die nicht vom Schreiben lassen können, in die totale Bedeutungslosigkeit … in das finstere Nichts des Vergessens verschwinden.

Attila Geole schenkt uns hier auf den ersten Blick nicht wirklich eine Kurzgeschichte zur Motivation … vor allem nicht für angehende oder praktizierende Autor*innen … und lässt die Leser*innen schrecklich deprimiert zurück. Doch nach der Überwindung des ersten Schocks, überkommt einen die Erkenntnis, wie überaus wertvoll das Schreiben als Ausdruck unserer Gedanken, Kreativität und Phantasie für die/den Einzelne*n ist … wie lebensnotwendig es für die ganze Menschheit ist, unsere Unvollkommenheit zu verarbeiten … und dass wir diesen Schatz bewahren und uns um ihn kümmern müssen.

Die Wurzel des Übels
von Ulf Fildebrandt

Ulf Fildebrandt entführt uns in eine Welt, in der KI’s erst mit viel Aufwand erschaffen werden, dann ein Bewusstsein erlangen, um anschließend als globale Gefahr der Auslöschung anheim gestellt zu werden, samt ihrer Erschaffer*innen.
Früher war so etwas Science-Fiction. Heute ist das nur noch plausible Prognistik. Dank einer Zutat ist es aber dann doch Near Fiction: Künstliche Empathie, die man als AE abkürzen könnte.

Vom Stil her nicht ganz meinen Geschmack treffend, spürt man von Anfang bis Ende, wie der Autor mit viel Elan und dem Wunsch jede Menge Information unterbringt, um plausibel eine Brücke zwischen aktuellen Entwicklungen hin zu einer gar nicht allzu fernen Zukunft schlagen wollte … was ihm durchaus gelingt … und uns leicht bis schwer erschrocken zurücklässt.

Die letzten Carnivoren
von Dieter Korger

Was wie eine schrullige Protest-Zelle unbelehrbarer Fleischesser in der nahen Zukunft anmutet, ist in Dieter Korgers Kurzgeschichte wohl ein Symptom immer vollständiger werdenden staatlichen Kontrolle, gespickt mit der Erkenntnis, dass man manch jahrelang bekannten Menschen vielleicht doch nicht so gut kennt, wie man glaubte.
Vom Prinzip ist es ein nicht uninteressantes Thema (nicht nur in der Zukunft), wenn alle, die nicht in die (vor-)herrschende Doktrin passen, pauschal zum Schweigen oder ins Gefängnis gebracht werden.
Allerdings erschließt sich mir nicht die Vereinfachung von Fleisch essen = ungesund und deshalb vom Staat verfemt gegenüber fleischlos essen = gesund und deshalb staatskonform, ohne irgendwelche Tierschutzaspekte zu berücksichtigen.
Entweder wird hier etwas stellvertretend für die Ausgrenzung von Gruppen nach völlig willkürlichen Parametern thematisiert oder nicht-carnivor lebenden Menschen werden autoritäre Machtfantasien unterstellt.
Wenn es Ersteres ist, war’s für mich zu subtil und ich hab’s kaum erkennen können.
Statt das Essen von Fleisch als letzte Bastion selbstbestimmten Lebens in einem verwahrlosten Grillpalast zu stilisieren, hätte es vielleicht besser der letzte Underground-Comicladen o.ä. sein können.

Ascheglühen
von Wolf Welling

Wird die Zukunft uns dazu ermächtigen, tödliche Krankheiten zu heilen oder gar künstlich das Leben (ewig) zu verlängern? Was aber wird der Preis dafür sein? Und wer wird ihn zahlen?
Viele Millionäre und Milliardäre streben schon heute nach einem künstlich mit viel Technik-Schnickschnack verlängerten oder gar dem ewigen Leben (kommt es mir nur so vor oder leiden fast immer Männer an dieser Hybris?).
Derlei Hoffnungen sind nicht wirklich neu, doch die aktuelle, von unermesslichem Reichtum und absoluter Technikgläubigkeit getriebenen Strömung der Reichsten, facht den Glauben an, bald derlei Ziele erreichen zu können.

Wolf Welling führt uns in seiner Kurzgeschichte an die Schwelle einer Zeit, in der solche Entwicklungen gerade Gestalt annehmen.
Ob es der ganze Körper sein wird, der dem ewigen Leben entgegenstrebt oder nur das körperlose Bewusstsein, ist noch nicht entschieden. Wie mag es einem Menschen gehen, der unfreiwillig am Leben gehalten wird und es nicht weiß? Wie erfahren wir, was in ihm vorgeht?
Offen bleibende Fragen, die in “Ascheglühen” zum Teil verwirrend, zum Teil verstörend angerissen werden. Trotz spannender Geschichte, wäre es aus meiner Sicht nicht verkehrt gewesen, eine*n Sensitivity Reader einen kurzen Blick auf den Text darauf werfen zu lassen.

Karusselfahrt
von Volker Dornemann

Eine kurze wie auch prägnante Erkenntnis von Volker Dornemann, die einen schwindelig werden lässt. Irgendwie wird mir komisch …

Götterdammerung
von Christian Manske

Der Mensch wollte schon immer Gott spielen und neues Leben erschaffen. Mit der Erschaffung von Androiden gelingt ihm das auf eine spezielle Art und Weise in der Zukunft vielleicht. Doch hat ein jedes Lebewesen nicht auch das Recht auf Selbstbestimmung? Und wenn das so ist, was hält Androiden davon ab, sich gegen die Einmischung von Menschen zu wehren, sich gegen sie zu schützen?

Christian Manske entführt uns mit seinem spannenden Kurzgeschichten-Verschwörungsthriller in eine Zukunft, in der die Grenzen zwischen Mensch und Android, Gut und Böse, Erschaffer*in und Erschaffenen bereits verschwunden sind.

Der Sumpf
von Roland Grohs

“Sei höflich und halt’s Maul!”
Ein prima Motto und gleichzeitig ein Symptom extremer gesellschaftlicher Selbstzensur in einer Zukunft, die den Ewig-Leben-Wahn schon lange hinter sich gelassen hat. Nicht, weil es fragwürdige Konsequenzen für Gesellschaften und die Menschheit als solche hat, sondern weil die Nebenwirkungen unschönes Hirnwachstum nach sich zieht.

Roland Grohs erzählt von einem skurrilen Tag in einer noch skurrileren Zukunft mit dezent morbidem Humor, der zum bitteren Schmunzeln anregt.

Hope
von Moritz Boltz