Jol Rosenberg – Psyche mit Zukunft

Disclaimer zu den Micro-Rezensionen

Die Micro-Rezis der Kurzgeschichten sind völlig subjektive Eindrücke, die ohne eine professionelle Kenntnis der in den Kurzgeschichten thematisierten Neurodiversitäten oder Erkrankungen verfasst worden sind. Sollte meine Wortwahl für Betroffene unangenehm oder verletztend sein, so ist dies ohne Absicht geschehen und ich bitte um Kontaktaufnahme, um die Texte ggf. anzupassen.

Disclaimer zu KI-Illustrationen

Auf Wunsch des Verlags und auch einiger Autor*innen wird bei den Micro-Rezensionen auf die Darstellung von genAI-Illustrationen verzichtet.

genAI-Plattformen wahren die Rechte der Künstler*innen, deren Werke für das Trainieren der KI verwendet wurden nur ungenügend oder gar nicht oder/und die Künstler*innen partizipieren nicht an den Erlösen.

Wer sich über die Problematik von genAI-Illustrationen informieren möchte, der/dem sei der Artikel von Lena Richter auf Tor-Online empfohlen.

Kurzeindrücke der einzelnen Texte:

Marskinder
von Charline Winter

Die Frage, was Erfolg ist oder wie dieser gemessen wird, ist selten Thema, denn scheinbar ist die Antwort völlig klar, nahezu ein Axiom: Erfolg hat die/der, die/der viel Geld hat. Daneben gibt es natürlich noch Erfolg durch eine herausragende Leistung, allerdings ist nicht immer klar, ob dieser Erfolgstyp denselben Stellenwert hat, wie der monetär begründete Erfolg. Haben Sportlerinnen Erfolg oder jemand hat zum ersten Mal etwas erreicht, was vor ihr/ihm noch niemand erreicht hat, wie in der Kurzgeschichte von Charline Winter, Sila eine der ersten Menschen auf dem Mars war, hat dieser Erfolg womöglich vor allem Symbolcharakter, aber nur wenig Nutzen, es sei denn, man wandelt ihn in viel Geld um.
Rein quantitativ muss einem allerdings klar sein, dass die Allerwenigsten diesen Erfolg erreichen. Der zahlenmäßig wesentlich größeren Gruppe bleibt der Erfolg verwehrt oder gehört zu den Verlierern der Gesellschaft. Erfolglos im Job, erfolglos in der Beziehung, erfolglos im Verwirklichen der eigenen Träume im Allgemeinen.
Viele Menschen leiden unter dem Druck, erfolgreich sein zu sollen und/oder es nicht geschafft zu haben. Manchmal reicht es schon aus, sich des realen oder fiktiven Drucks, Erfolg habe zu müssen, gewahr zu sein, um daran zu zerbrechen.
Ein Weg, diesem erdrückenden Gefühl und daraus resultierenden psychischen Symptomen zu begegnen, kann es sein, erstmal einfach nur zu existieren, es dabei zu belassen und damit zufrieden zu sein. Schon der Schritt aus dem Zimmer auf den Balkon, kann ein ebenso großer Erfolg sein, wie das Betreten des Mars.
Eine von Charline Winter unaufgeregt und sensibel geschriebene Kurzgeschichte, die mich nachdenklich zurücklässt.

Der Wert der Dinge
von Katharina Stein

Es gibt Lebensumstände, die einen (natürlich nicht jede*n) sehr (physisch und psychisch) belasten können. Nicht jede*r kann diesen Rahmenbedingungen entfliehen, weil der finanzielle, soziale oder ein anderer Druck einen zwingt/nötigt auszuharren. Manches Mal wird der Druck allerdings so hoch oder das Leid so groß, dass man daran zerbricht, was schrecklich ist und unbedingt vermieden werden sollte. So weit, so gut.
In der Geschichte von Katharina Stein verhält es sich jedoch etwas anders. Die Protagonistin erduldet bereits seit längerem unsägliche Qualen an ihrem Arbeitsort und ihr Körper und ihr Geist sind sowohl therapeutisch als auch medikamentös nicht wirklich zufriedenstellend eingestellt. Was die Sache erschwert: Sie befindet sich auf einer Forschungsstation inmitten des Weltraums. Das Dilemma, in dem die Protagonistin steckt: Dieser außergewöhnliche, gefährliche, lebensfeindliche und beengte Arbeitsplatz ist ihr großer Traum, für den sie jeden Preis zahlt. Selbst wenn auf der Rechnung ihre Gesundheit oder gar ihr Leben steht.
Spannend erzählt und mit einem inspirierenden evolutionsgenetischen Ausblickt gespickt, stellt Katharina Stein die Frage in den (Welt-)Raum, wie selbstzerstörerisch weit wir gehen würden, um uns unsere Träume zu erfüllen. Auch diese Kurzgeschichte stimmt mich nachdenklich.

Der Hobbyfriedhof
von Lee Doubleu

In einer gar nicht allzu weit entfernter Zukunft, wenn Neurodiversität in der Gesellschaft alltäglich geworden ist und sie nicht mehr pathologisiert wird, könnte es sein, dass man nicht mehr die Menschen mit Medikamenten und nicht medikamentösen Therapien auf ein dem Durchschnitt angepasstes Level zu heben/senken versucht, sondern die Umwelt auf ihre individuellen Bedürfnisse anpasst. Statt nur das wahrzunehmen, was neurodivergente im Vergleich zu durchschnittlichen Menschen nicht können, werden die mit der Neurodiversität einhergehenden Eigenschaften und Fähigkeiten systematisch und kategorisch genutzt und gefördert.
Aber wie es eben mit kategorischen Maßnahmen (auch in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts) so ist, für Menschen, die anders sein möchten, werden keine Ausnahmen gemacht, was durchaus zu anderem Leid führen kann.
In einem anspruchsvollen Schreibstil, der die Gefühlswelt dey (bin mir ob des korrekten Artikels nicht sicher) Protagonist* unterstreicht, fand ich mich zu Beginn der Kurzgeschichte zuerst nicht zurecht, doch als sich mein Lesetempo mit dem Schreibtempo von Lee Doubleu synchronisierte, erahnte ich etwas von der mir unbekannten Welt der Neurodiversität.

HHH
von Jol Rosenberg

Schuldgefühle, ob begründet oder nicht, können lähmen und verhindern, dass man lebt. Die Möglichkeiten, sich schuldig zu fühlen sind vielfältig und Luan 36D hat in sier bisherigem Leben so manche Schuld angenommen. Beziehungen zu Menschen schienen bisher nicht aus dieser Schuldspirale geholfen zu haben, sondern sorgten eher für eine weitere Verschlechterung des Zustandes.
Erst als sier die Möglichkeit bekommt, die künstliche HighTech-Haushaltshilfe 3H für ein halbes Jahr zu testen, verändert sich sier Einstellung zum Glück.

Jol Rosenberg schafft es durch das Ins-Spiel-Bringen eines Nicht-Menschen, die Perspektive eines unglücklichen Menschen auf das eigene Glück zu lenken, indem en sich um das Glück der Maschine mit jeder Menge Features wie einem Empathiemodul und vielem anderem sorgt. So erhält der angestrebte Glückszustand eine Komponente, die nicht durch die glücksuchende Person allein, sondern nur durch Interaktion und Empathie mit einem anderen Wesen erreicht werden kann, gleichgültig, ob es ein Mensch ist oder nicht. Interessanterweise lässt Jol Rosenberg auch 3H eine Entwicklung durchlaufen, die allerdings anders verläuft, als es ihre Erschaffer*innen geplant hatten.
Sehr einfühlsame Kurzgeschichte über eine scheinbar ausweglose Situation, die uns keineswegs erst in der Zukunft beschäftigen wird.

Steht 3H eigentlich für HausHaltsHilfe?

Im Herzen der Maschine
von Anne K. Ramin

Nur, weil Maschinen in der Zukunft, die für unsere psychische Gesundheit zuständig sind und vermeintlich intelligent sowie unfehlbar sind, heißt das noch lange nicht, dass all unsere Ängste und destruktiven Gedanken verschwunden sein werden. Die vermeintlich perfekten Algorithmen verhindern durch ihre Omnipotenz dann vielleicht sogar die Möglichkeit, in unserer Fehlbarkeit wahrgenommen zu werden und verdammen uns womöglich zu ewigem Stillstand.
Ein toll gezeichnetes düsteres Szenario von Anne K. Ramin, das durchspielt, wie bei Anthropo- oder Sozialphobie das vollständige Vermeiden menschlicher Kontakte und/oder eine Kompensation durch Maschinen bzw. anthropomorphe künstliche Intelligenz nicht wirklich weiterhelfen.

Die Koloratur des Fallenlassens
von Paula Schulz

Sich seinen Ängsten zu stellen ist ein Kraftakt, der einen körperlich und psychisch an seine Grenzen bringen kann. Zwar muss man wohl meistens den ersten Schritt alleine machen, aber auf dem kräftezehrenden und bedrohlichen Weg ist es hilfreich, wenn nicht sogar notwendig, sich von anderen helfen zu lassen.
Paula Schulz erschafft in ihrer Kurzgeschichte eine Welt in einer weit entfernten Zukunft, in der die Technologie die individuellen Bedürfnisse subtil unterstützt und Menschen miteinander verbindet. Es ist ein utopischer und schöner Gedanke, dass die Technik, die uns heutzutage eher isoliert und voneinander entfernt, auch anders verwendet werden könnte.

Confiboost
von der Redaktion

Die Packungsbeilage eines Medikaments aus der Wirkstoffgruppe der Nullproblemaine … wäre die Stärkung des Selbstbewusstseins doch nur so einfach. Ich bevorzuge ja Medikamente aus dem Bereich der Lassmichinruheine und Issmirsowasvonegalika, die leider nur bedingt und temporär helfen. Wenn man sich die Welt der Staatenlenker anschaut, so könnte ich mir gut vorstellen, dass deren Mütter während der Schwangerschaft mit Confiboost etwas über die Strenge geschlagen haben … überhaupt … der Warnhinweis für Schwangere fehlt noch in der Packungsbeilage.

Sternenängste
von Saskia Dreßler

Der Zustand panischer Angst, kann einen nahe an den Rand der Verzweiflung bringen … oder auch darüber hinaus. Besonders dann, wenn man mit Situationen konfrontiert wird, die man eigentlich zu meiden gelernt hat, jedoch die Möglichkeit, Einspruch einzulegen eher ziemlich limitiert ist, da die Entscheidung von einer omnipotenten KI getroffen wurde. Wie soll man dagegen ankommen?
Dey extrem von Flugangst verfolgte Sanariel findet sich in xir worst case-Szenario panischer Alpträume wieder als xir Arbeitsplatz ein Raumschiff wird.
Saskia Dreßler schildert erschreckend eindrücklich, wie sich dey Protagonist* in einer Art Matrjoschka-Verzweiflung fühlt: nackte Angst in einem verängstigten Menschen in einer demm ablehnenden Kolleg*innengruppe in einem beängstigenden Raumschiff in einer pechschwarzen Dunkelwolke ohne Orientierungspunkte und das alles in einem unendlich Weltraum … wenn das nicht Angst hoch n ist, weiß ich auch nicht.
Schön zu lesen, dass es aber mit sich ordnenden Gedanken, einer einen besonders auszeichnenden Fähigkeit und hilfsbereiten Menschen Hoffnung finden lässt. Eine tolle Mini-Space-Opera.

Ein Schritt ins Leere
von Aiki Mira

Ein Leben lang nicht so sein zu können, wie man eben ist, muss schrecklich sein. Sicherlich erleichtert es neurodivergenten Menschen die Anpassung an den Durchschnitt, indem sie medikamentös eingestellt werden, aber letzten Endes kreieren sie damit eine zweite Version ihrer selbst. Natürlich ist dies für diejenigen, die das so wollen, eine gute Lösung. Es kann aber auch ein Reise zu sich selbst sein, die Version von sich zuzulassen, die man ohne Medikamente ist.
Aiki Mira lässt ihre Protagonistin in einer weit entfernten Zukunft leben, in der sich die Menschheit weiter ausdifferenziert hat und es den Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau mit all den uns bekannten Klischees schon lange nicht mehr gibt. Zwar sind auch dort Vorurteile nicht ausgestorben, aber die Wahlmöglichkeiten, wie, wer und was man sein möchte, haben zugenommen.
Dennoch lebt jede* nur sein/ihr/sier eigenes einziges Leben und auch wenn man das Leben mit einem Menschen teilt, weiß man so lange nicht, wie er/sie/sier sich fühlt, bis man es am eigenen Leib ausprobiert hat.
Einfühlsam und melancholisch über einen inneren sich stetig entwickelnden Monolog erzählt.

Tulpenfarben
von Marie Tères

Atypisches Verhalten, vor allem, wenn es konsequent auftritt wie bei OCD (obsessive-compulsive disorder), fällt anderen ziemlich schnell auf. Abhängig von der vorherrschende Sympathie oder Antipathie wird es ignoriert, toleriert oder im besten Fall verstanden. Oft projiziert das Gegenüber allerdings das zwanghafte Verhalten auf sich und fühlt sich durch die Pedanterie und die Wiederholungen gestört, gegängelt oder mit voller Absicht belästigt, was nicht selten zu einer selbstgewählten Isolation des Betroffenen führt.
Marie Tères erzählt charmant und emotional, wie durch OCD gepaart mit Missverständnissen eine zarte Beziehung zweier talentierter Forscher*innen gefährdet wird und wie wichtig es ist, über die Gefühle und Motive des anderen und von sich selbst zu sprechen, um Fehlinterpretationen und Traumata zu vermeiden.

Hesitation Marks
von Thorsten Küper

Sehr spannender Kurzgeschichtenthriller über den Einfluss einer hypersensiblen Softwareentwicklerin, die sich zwar nicht immer selbst spüren kann, dafür aber über einen unumstößlichen moralischen Kompass verfügt.

Thorsten Küper erzählt mit einer sehr ausgewogenen Mischung aus gefühlvoll beschriebenen Einzelschicksalen und actionreicher Medienberichterstattung einen Cyberthriller, in dem die Menschlichkeit über den Umweg einer KI wieder zum Menschen zurückfindet. Er schafft das Kunststück, in seiner 30-seitige Kurzgeschichte mehr Spannung und Handlung auszuerzählen, als ich schon in so manchem abendfüllenden Kinofilm (nicht) gesehen habe.

Götter des verschobenen Teppichs
von Alessandra Reß

Deep Learning und das Leben passen nicht immer zusammen. Es gibt so manche Situation, in der wir alles andere als rational (re-)agieren. Was aber, wenn eine KI einerseits Regeln befolgen soll, diese Regeln aber voller Ausnahmen sind.

Alessandra Reß lässt sich in ihrer Kurzgeschichte auf das Experiment ein, die Haus-KI Lier im Umgang mit ihrer Protagonistin Olivia “erwachsen” werden zu lassen, in dem sie sie mit Irrationalem, Inkonsequenz und Konflikten konfrontiert. Dabei entlarvt sie subtil und intelligent die Grenzen von Wissen und Glaube und verdeutlicht, wie nicht nur Fakten unser Denken und Handeln bestimmen, sondern auch der individuelle Umgang mit ihnen im Kontext von Ängsten und freiem Willen. Aber den Pantheon des Marottismus würde ich schon gerne kennenlernen …

KI-ne Panik!
von An Brenach

Wäre eine KI ein Mensch … würde sie beizeiten unter Panikattacken und Überforderung leiden.
In An Brenachs Kurzgeschichte verliert in einem Adams‘schen Universum eine bis dato zuverlässige KI den Boden unter den Füßen, reagiert irrational, emotional und bricht zusammen. Wenn schon eine omnipotente KI bei alltäglichen Aufgaben überfordert ist und Ängste entwickelt, dürfen wir fehlbare Menschen das wohl dreimal zulassen. Weder eine KI noch wir Menschen sollten dabei vergessen, dass wir anderen vertrauen und uns von ihnen helfen lassen sollten.

Neu formatiert
von Simone Kehrberg

Wie cool wäre es, wenn neurodiverse Gehirne wie eine leicht durcheinander geratene und fragmentierte Festplatte extracerebral heruntergeladen, einfach mal durchgefeudelt und wieder hochgeladen werden könnten … oder vielleicht doch nicht?
Simone Kehrberg spielt die fortentwickelte Neurologie als Ersatz einer Psychotherapie ein kleines Stückchen weiter und zeigt der/dem mit hochgezogenen Augenbrauen Lesenden, was möglich wäre, wenn die Therapie dezent außerhalb ihrer Vorgaben genutzt werden würde.
Die Moral von der G’schicht: Eltern sollten sehr, sehr vorsichtig sein, was sie sich für ihr Kind wünschen…

Nachrichten
von der Redaktion

Ein pseudonymisierter Kurz-Chat von nicht wirklich schreibwütigen Menschen, von denen mindestens eine/r die Bekanntschaft mit dem auf Seite 91 angepriesenem Confiboost gemacht hat. Die nicht geschriebenen Worte lassen vermuten, dass das Mittel nicht alle Selbstbewusstseinsprobleme zu lösen imstande ist.

Toter Winkel
von Lena Richter

Foto: Ralf H. Schneider

Menschen, deren Erkrankungen nicht erkennbar sind, gelten zumeist als gesund. Schon körperliche Leiden, die von außen nicht erkennbar sind, wie Migräne, sind wesentlich schwerer zu erkennen, als eine klaffende Wunde an der Stirn, gleichwohl der Schmerz im Kopf wesentlich heftiger ausfallen kann.
Wie unsichtbar erkrankt aber fühlen sich diejenigen, deren Schmerz nicht körperlich ist? Nur ein Teil erkennt die eigene Erkrankung und ein noch geringerer Teil sucht bzw. findet Hilfe. Was aber geschieht mit der unerkannten Dunkelziffer? Was passiert aber mit denen, die sich im toten Winkel ihrer Umgebung, der Gesellschaft oder gar ihrer eigenen Wahrnehmung befinden?
Lena Richter erzählt in einem eigentlich für psychische Erkrankungen sehr aufmerksamen Ort, einer dafür ausgerichteten medizinischen Einrichtung der Zukunft, wie schnell ein völlig gesund erscheinender Mensch mit viel Erfahrung in Sachen Psychiatrie eine Situation herbeiführen kann, die rasant eskaliert und Gefahr läuft, nicht nur sich selbst großen Schaden zuzufügen, auch wenn es sich lediglich um einen Nebencharakter handelt. Fürsorglicherweise erfahren wir Lesenden mit dem Charakter ihrer Protagonistin aber auch, was passieren kann, bevor die Situation außer Kontrolle gerät: Man bittet um Hilfe.


Die Message der Kurzgeschichte von Lena Richter ist klar und deutlich: Achtet auf Eure Umgebung und auf Euch selbst.

Ich und mein Parasit
von C. N. Stance

Bildquelle: Bearbeitetes Foto von Brandon Nickerson von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-der-rote-strickmutze-im-dunklen-raum-tragt-395085/

So manche*r mit einer psychischen Erkrankung oder Neurodivergenz wird von seiner Umgebung isoliert oder isoliert sich selbst. Nichtsdestotrotz lebt man inmitten anderer Wesen, mit denen man irgendwie umgehen sollte. Das ist in einer multiplanetaren Zukunft mit den unterschiedlichsten Wesen nicht wirklich anders, nur, dass eine weitere Möglichkeit, destruktiven Einflüsterungen ausgesetzt zu sein, von einem glibbrigen extraterrestrischen Parasiten stammt, der sich auf dem Kopf festsaugt und der/dem Wirt_in das Leben zur Hölle macht.
C.N. Stance wählt in ihrer Kurzgeschichte die Personifikation/Imagination einer Depression als Parasiten, was wahrscheinlich ziemlich gut auf die Eigenschaften dieser Erkrankung passt. Zwar kommen unsere intergalaktisch reisenden Nachfahren damit auch nicht so ohne Weiteres klar, aber sie erkennen sich untereinander wesentlich einfacher. Und manchmal tut es gut, sich mit jemandem auszutauschen, die/der die gleiche Krätze am Hacken kleben hat, wie man selbst.

Emmerich
von Paula Velten

Foto von Pixabay von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/weisses-fell-und-orange-schnabeltier-46176/

Zwangshandlungen werden meistens als ein Defizit angesehen, die einen selbst einschränken und die Menschen um einen herum irritieren, amüsieren oder abschrecken. Die Welt mit anders funktionierenden Sinnen wahrzunehmen, kann aber auch ein Alleinstellungsmerkmal sein, das nur darauf wartet, eingesetzt zu werden.
Paula Velten erzählt charmant und unaufgeregt die Geschichte einer intelligenten, aber eher im Hintergrund lebenden Wissenschaftlerin, die die einzige ist, die eine Gefahr erkennt und mal so ganz nebenbei die Welt rettet. Gut zu wissen, dass die relativ isolierte Protagonistin trotz ihrer besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, nicht alleine leben muss, und in ihrer Gans den perfekten Begleiter gefunden hat.

Seelenruh
von Marie Meier

Foto: Ralf H. Schneider

Depression ist eine Erkrankung, die Vertreter*innen aller Gesellschaftsschichten befällt. Auch wenn es für das Leiden keinen Unterschied macht, wie viel man auf dem Konto hat, fangen luxuriöse Lebensumstände wohl einige Folgen wesentlich besser ab, als bei Menschen in prekären Verhältnissen.
Marie Meier lässt ihre Geschichte in einer Zukunft spielen, in der sich die Gesellschaft in Sachen Akzeptanz psychischer Erkrankungen wieder zurückentwickelt hat und entsprechend wirksame Medikamente sowohl für die meisten unerschwinglich als auch kontraproduktiv sind. Ein hochwirksames und nebenwirkungärmeres Mittel existiert zwar, doch fristet es leider ein Schattendasein im Untergrund … hinter einer (grünen) ständig defekten Tür. Manchmal müssen diejenigen, die etwas bewirken können, hautnah miterleben, was es heißt, betroffen zu sein, damit sich etwas ändern kann, vorausgesetzt diese Menschen
Eine schön erzählte dystopische Utopie, bei mir noch nicht ganz klar ist, welche grüne Tür hier Pate stand 😉

Eine Kleinanzeige
von der Redaktion

Foto: Ralf H. Schneider

Eine beruhigende Vorstellung, eine Begleitung zu haben, wenn es einem psychisch nicht gut geht. Noch besser, wenn es sich dabei um ein symbolisch lebendes Wesen handelt, das einem genau das geben kann, was man in schwierigen Situationen braucht und sogar einen Heilungsprozess einzuleiten imstande ist.
Da klingt es nur vernünftig, sich von ens zu trennen, sobald man wieder stark genug ist, um alleine weiterzumachen, damit auch andere von der Symbiose profitieren können.
Auch wenn in der kleinen, aber feinen Anzeige der Redaktion von einem nicht mehr benötigten Symbionten die Rede ist, dier wohl über viele Jahre Therapeutens, Begleiterens und Seelenpartnerens für einen Menschen mit Psychosen und Depressionen war und nun in neue hilfsbedürftige Hände (resp. Rücken) gegeben werden soll, prophezeie ich mal ganz dreist, dass es derlei 24/7-Begleitung/-treuung in wenigen Jahren zwar nicht als Lebewesen, wohl aber als technisches Gadget geben wird. Womöglich nicht per zugelassener Verordnung von den Krankenkassen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass findige (=gewinnorientierte) IT-Konzerne eine derartige Begleitung nur allzu bald unter die Konsument*innen bringen werden. Ob sie, wie in der Kleinanzeige, ein Symbiont sein oder sich als Parasit herausstellen wird, werden wir sicher bald jenseits der Fiktion herausfinden.

Grenzwandlerin
von Nicole Hobusch

Überall und zu jeder Zeit lauern Gefahren, Zweifel und Verrat. Jede_r führt etwas gegen einen im Schilde. Nirgendwo ist man in Sicherheit.

Was für ein schrecklicher Zustand, in dem sich Menschen mit paranoiden und/oder wahnhaften Vorstellungen jede Minute ihres Lebens befinden. Unvorstellbar, so noch ein einigermaßen “normales” Leben zu führen.
Nicole Hobusch erzählt in ihrer Kurzgeschichte sagenhaft mitreißend einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben einer sehr zurückgezogenen (aus Gründen!) Person, die sich verfolgt fühlt und trotz einer geregelten (Home Office-) Arbeit am Rande der Verzweiflung ihren Alltag bestreitet. Keine Geschichte für schwache Nerven und man sollte auch tunlichst vermeiden, vor der dem Lesen eine Tasse Kaffee oder schwarzen Tee zu viel getrunken zu haben. Der Puls steigt von Absatz zu Absatz und wie Esra gerät die/der Lesende in den immer schneller werdenden Sog von nackter Verzweiflung und Angst. Nicole Hobuschs Kunststück dabei ist, dass die erzeugte Spannung ganz ohne die Existenz einer echten Bedrohung erzeugt wird … oder ist da doch etwas da draußen?

Retrospektive
von Janika Rehak