J.R.R. Tolkien – Der Herr der Ringe – Eine Vorlesereise (Zweites Buch)
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Eine illustrierte Vorlese-Reise (Teil 2):
Den Herrn der Ringe als Vorleselektüre ist an sich bereits eine Herausforderung … vor allem an die/den Zuhörende*n 😉
Aber wenn die Zuhörende eine 92-Jährige ist, wird die Sache interessant.
Nach dem ersten Buch ging die Reise unmittelbar weiter, denn es wäre nicht fair, die Seniorin mit einem solchen Cliffhanger in den Schlaf zu schicken …
Illustrationen zu "Der Herr der Ringe"
Quelle: Midjourney/ Ralf H. Schneider
Texte zu den einzelnen Etappen
Das zweite Buch des “Herrn der Ringe” hat ein angenehm langsames Tempo, nachdem das erste mit einer ständig neu aufflammenden Jagd endete. Mancher/manchem mögen die Ausführungen und Gespräche zu langatmig und überflüssig erscheinen. Ich für meinen Teil empfinde die Umsetzung, die Lesenden/Zuhörenden an fiktional-historischen Informationen teilhaben zu lassen, ohne im Info-Dumping zu versinken, sehr gelungen. Und zu meiner Überraschung unterminiert das nicht enden wollende Erscheinen neuer Namen und Orte in einigermaßen verständlicher und elbischer Sprache nicht das Interesse der 92-jährigen Zuhörenden.
Zweites Buch
Woran erkennt die/der Vorleser*in, dass ihr*e/sein*e Zuhörer*in keineswegs unaufmerksam oder gar wenig aufnahmefähig ist?
Sie/er beschwert sich beim Zuschlagen des Buchs: “Das war aber sehr kurz!”👀
Der Vorabend von Elronds Rat bedeutet eine kurze Verschnaufpause, bevor es so richtig losgeht und die Gefährten gen Mordor aufbrechen. Es ist aber auch ein Scheideweg, an dem die wohlige Wärme des Nichtstuns und Abwartens gegen Qualen und Verlust abgewogen werden. Die Lieder in der Halle des Feuers erschaffen Erinnerungen und Vorsehungen an Zeiten, die entweder für immer vergessen oder nie eintreffen werden, sollte der Ring nicht vernichtet werden. Wieder einmal kann es nur ein Hobbit sein, der die richtige Wahl zu treffen imstande ist.
Natürlich frage ich mich immer wieder, ob die Komplexität von Tolkiens Werk vielleicht etwas zu viel für eine 92-Jährige ist. Nun, die Antwort ist relativ einfach, wenn man weiß, wie sehr alltägliche Umstände bereits überfordern für sie sind. Aber darauf kommt es nicht wirklich beim Vorlesen an. Schon ein paar Wörter lassen manchmal Bilder erscheinen, die offenbar ankommen und erkennen lassen, dass sie Freude daran hat. Ob sie die vielen Namen gerade beim historischen Abriss während Elronds Rat mitbekommt oder gar einordnen kann, ist so unwahrscheinlich wie gleichgültig … die Namen auf Elbisch sind aber auch verwirrend, zumal ich sie nicht korrekt auszusprechen vermag.
Die Aufgabe ist aber erfüllt, wenn nach dem Lichtausmachen unvermittelt ihre Stimme aus dem Schlafzimmer ertönt: “Das ist aber sehr interessant.”
Ich bilde mir das doch nicht ein, oder?
Die erste Begegnung zwischen Aragorn und Boromir verläuft ja nur so semi-harmonisch und wenn ich mir ihre beiden Statements vergegenwärtige, erinnert mich das irgendwie an einen sehr testosterongeladenen “Schwanzvergleich”.
Die Berichte der einzelnen Mitglieder von Elronds Rat fallen grundsätzlich ja auch eher deprimierend aus: Legolas muss gestehen, dass die Elben Gollum haben entkommen lassen und er seine spitzohrigen Leute im Grunde nicht als nicht wirklich mutig und clever dastehen lässt. Gandalf erzählt von Sarumans Verrat, wie er ohne jede Gegenwehr sich auf dem Dach des Turmes wegsperren lässt, auf einem widerwilligen Adler (der wie ein Berliner Taxifahrer rüberkommt) von Orthanc fliehen kann, um sich dann bei den Rohirrim ein Pferd zu schnorren, dass sich als das edelste der edlen Pferde entpuppt und sich nur von ihm reiten lässt, was er so ganz nebenbei und total bescheiden droppt.
Auch das wurde mir durch das laute Vorlesen erst so wirklich klar:
Tolkien schildert hier irgendwie eine Runde aus männlichen Posern und Versagern.
Das abendliche Vorlesen beginnt seit der ersten Seite aus dem “Hobbit” mit einem Schlaftrunk für die 92-Jährige. Und da nicht nur ihr Literaturgeschmack hervorragend ist, sondern auch ihre Wahl eines guten Getränks, gibt’s regelmäßig ein Glas alkoholfreies Bio-Bier mit dem Glasröhrchen. Während Minni so auf der Bettkante vor sich hinschlürft, räume ich noch etwas auf und setze mich dann mit dem Buch zu ihr und lege los.
Als ich gestern das Buch kurz weglegte, um ihr leeres Glas zu entsorgen, zuckte sie zusammen und sagte überrascht: “Was? Schon fertig?” Erfreulicherweise konnte ich etwas Panik in der Stimme hören 😉
Natürlich waren wir für heute noch nicht fertig und nachdem sie zugedeckt war, ging’s selbstverständlich weiter.
Diesmal ging’s um die letzten Tage in Bruchtal bei Elrond. Der Rat endete und beschloss, den Ring zu vernichten. Kundschafter wurden ausgesandt und nach ca. zwei Monaten waren alle zurückgekehrt und erstatteten Bericht. Die Nazgûl waren wohl zu ihrem Herrn zurückgekehrt und stellten vorerst keine unmittelbare Bedrohung mehr dar und von Gollum fehlte jede Spur. So fanden sich nach Wochen der Ruhe und Entspannung die neun Gefährten zusammen und nahmen von Elrond und Bilbo Abschied. Das Lied, das Bilbo bei einer der letzten Begegnungen mit Frodo sang, rührte mich beim Vortragen so unvorbereitet, dass ich doch tatsächlich kurz mit meiner Stimme kämpfte. Vorzulesen hat eben immer wieder eine Überraschung parat.
Die Gefährten verlassen allmählich die Gefilde der Menschen, Hobbits und Elben und erreichen Zwergengebiet. Auf dem Weg dahin treffen Gandalf und Aragorn eine gut gemeinte Entscheidung, die aber von magischen Kräften verhindert wird, sie scheitern am Caradhras und werden zur Umkehr gezwungen. Schlimmer noch: es bleibt ihnen nur noch der eine Weg, den sie eigentlich vermeiden wollten … der Weg durch Moria.
Dass die Gefährten aus 9 Personen (+ Lutz) bestehen, ist meiner Zuhörerin ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Wer alles dazu gehört, erscheint noch etwas lückenhaft, aber die Zahl bleibt ja vorerst bestehen und sie kann noch üben. Obwohl … sie stehen ja kurz vor den Toren von Moria, wo nichts Gutes auf sie wartet 😱
Zuvor werden sie aber noch mit dunkler Magie in Gestalt übergroßer Warge konfrontiert, was die Laune nicht wirklich hebt.
Es ist wohl kein Zufall, dass das Ungeheuer im aufgestauten See des Sirannon gezielt nach Frodo greift. War es im Film nicht ein Hobbit, der es mit dem geworfenen Stein weckte? Mhm, Boromir macht sich als impulsiver Stänkerer ja schon früh unbeliebt.
Gandalf scheint zudem nicht gut mit Kritik klarzukommen und kann seinen Ärger über die eigene Inkompetenz beim Öffnungsversuch des Tores nach Moria kaum verbergen. Zudem zeugt es nicht gerade von Größe, dass er seine Wut auf den Kleinsten der Gruppe projiziert.
Dunkel und verworren sind die Wege in den Minen von Moria. Wo einst der Reichtum und die Kunstfertigkeit der Zwerge das Innere des Gebirges erfüllte, herrscht nun nur noch Dunkelheit und Stille. Nach vielen Stunden mühsamen Marschierens durch dunkle und verworrene Gänge, in denen Gandalf zum Teil ratlos die Richtung erriet, finden die Gefährten in einer Kammer das Grab Balins und damit die traurige Gewissheit, dass alle aus seiner Sippe vor langer Zeit hier ihr Ende fanden. Hoffnungslosigkeit überzog die Gemeinschaft und ich sah mich gezwungen, für meine 92-jährige Zuhördende etwas zu spoilern, um sie nicht mit allzu trüben Aussichten ins Land Träume zu schicken.
Die Gefährten haben den dunklen Marsch durch die Minen von Moria fast hinter sich gebracht, als sie nach Balins Grab in eine weitere Falle gerieten. Gandalf leistet mit all seiner Kraft Widerstand und stellt sich Durins Fluch kurz vor dem Osttor.
Die Flucht- und Kampfszenen überschlagen sich und ich entschied mich, der mit offenem Mund lauschenden 92-Jährigen noch eine kleine Zusammenfassung der Geschehnisse zu geben, weil ich vermutete, dass so manches Detail in der Hektik unterging.
Diesmal kamen wir mit dem Vorlesen nicht sehr weit und damit auch nicht sehr weit auf dem Weg durch Lothlórien, da sich beim Vorleser eine Erkältung ankündigte.
Lothlórien ist eine der letzten Gebiete in Mittelerde, an der das Vordringen von Saurons Macht noch abgeprallt ist. Die bisher erfolgreiche Verteidigung der Grenzen des Waldes verdankt er auch den strengen Gesetzen für “Gäste”. Leider impliziert dies auch die Ungleichbehandlung und im Grunde rassistisch motivierte Herabstufung von Zwergen, was Gimli eher nur semi-witzig aufnimmt. Bevor es jedoch zur Eskalation kommt, entscheidet Aragorn, dass alle Gefährten gleich behandelt werden, was zur Folge hat, dass sie alle eine lange Etappe mit verbundenen Augen durch den Wald gehen müssen.
Sehr bemerkenswert, dass Tolkien hier das Thema anschneidet, dass Angst und berechtigte Schutzmaßnahmen auch Ungerechtigkeit und Vorurteile nach sich ziehen und noch bemerkenswerter, wie damit innerhalb der Gefährten damit umgegangen wird.
Krankheitsbedingt mussten wir eine kleine Vorlese-Pause einlegen. Ein klein wenig herausfordernd war es dann beim Wiedereinstieg, die Geschichte mit Mundschutz wiederzugeben. Aber die letzten Nächte waren bei meiner 92-jährigen Zuhörerin etwas durchwachsen und sie schlief sehr schlecht. Natürlich war der einzig mögliche Grund, die fehlende Einschlafhilfe des Herrn der Ringe 😉 So beschloss ich, trotz meiner nicht zu verleugnenden Schwäche, die Vorlese-Abende fortzuführen. Zum einen muss Minni ja erfahren, wie es mit den Gefährten weitergeht und zum anderen gilt es, das Einschlafritual weiterzuführen, denn die nächtlichen Einsätze zerrten dann doch etwas an den Nerven
Der Einstieg begann mit einer kurzen Abfragerunde, wo wir denn beim letzten Mal waren und erstaunlicherweise wusste Minni sofort, dass die Gefährten bedauerlicherweise nur noch aus 8 Personen bestehen. Gut, sie war irgendwie noch in den Minen von Moria und meinte, die Gemeinschaft wäre auf der Suche nach einem Ausgang, aber … hey … für 92 ist das doch schon ziemlich gut.
Weiter ging’s mit Haldir durch Lothlórien bis sie alle bei Caras Galadhon ankamen, der Stadt der Galadhrim. Zum Leidwesen der Hobbits, kletterten sie über eine Leiter in die Äste des größten Mallornbaums bis sie in der Halle von Galadriel und Celeborn ankamen. Die Begrüßung war zuerst höflich und dann wurde es seitens Celeborns etwas ruppig. Und Galadriel nutzte gleich mal die Gelegenheit, jeden einzelnen der Gefährten einem ersten Test zu unterziehen, was mit dem komplimentenbeladenen Gestammel von Gimli und einem geröteten Gesicht von Sam endete.
Ein vielversprechender Wiedereinstieg.
Der Wiedereinstieg war eher ein Wiederhineinschleppen, denn ich musste das Vorlesen noch eine Weile mangels ausreichender Energie aussetzen. Im Grunde hatte es damit eine gewisse Ähnlichkeit zu der “Pause”, die sich die Gefährten in Lothlórien gönnten, wenngleich die körperlichen und psychischen Wunden für jeden Einzelnen weitaus gravierender waren, als beim Vorleser 😉
Doch auch wie für die verbliebenen 8 ging es dann mit den abendlichen Treffen am Bettrand weiter. Die Gemeinschaft erholte sich und die sich einst skeptisch und voller Vorbehalte gegenüberstehenden Vertreter des Elben- und des Zwergenvolks Legolas und Gimli wuchsen zusammen. Frodo besteht eine weitere Prüfung, der sich zeitgleich auch Galadriel gegenüberstehen sah. Die Pause ließ die Gemeinschaft zwar nicht wirklich neue Hoffnung schöpfen, aber trauten sie sich nun zu, mit mehr Kraft, Ihren Schicksalen entgegenzugehen.
Die Pflege eines älteren Menschen beschränkt sich selbstverständlich nicht auf das abendliche Zähneputzen und Ins-Bett-Bringen. Es sind täglich viele kleine und große Aktivitäten, die mal Routine und mal jenseits der Tages-/Nacht-Ordnung stehen. Es ist hierbei ein Privileg, wenn man all das nicht alleine meistern muss und professionelle Hilfe hat, auch wenn die Fäden bei einem zusammenlaufen. So kommt es natürlich ab und an vor, dass uns Minni (oder die Notruf-Zentral) mitten in der Nacht anruft. Manchmal nur aus einer Verwirrung heraus, manchmal aus guten Gründen. Das verkürzt beizeiten die Nächte und bringt einen immer wieder an die eigenen Grenzen.
Umso schöner sind angenehme Routinen, wie die allabendliche Rückkehr nach Mittelerde. Hier lassen sich die Gefährten von ihren Erinnerungen begleitet auf dem Anduin treiben, wo schon bald klar wird, dass sie die geschützte Atmosphäre von Lothlórien endgültig verlassen haben und von den Dienern des Feindes verfolgt werden. Sowohl Sméagol als auch die Orks haben ihre Fährte wieder aufgenommen und machen die Gemeinschaft wieder zu Gejagten.
Die schicksalhafte Reise des Ringes findet ihr zweites (nun ja, eigentlich erstes) Opfer.
Boromirs im Grunde gute Absichten bringen Frodo in große Gefahr, zerstören die Gemeinschaft und führen zu seinem letzten Hornstoß.
Aragorn wird von großen Schuldgefühlen geplagt und verzweifelt beinahe an der Entscheidung, wem er folgen soll.
Die Zeit drängt und es bleibt erneut keine Zeit, einen Abschied gebührend zu begehen.
Ab jetzt erzählt Tolkien zwei, zeitweise drei parallele Geschichten.
Das wird für meine Zuhörerin eine echte Herausforderung.
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