J.R.R. Tolkien – Der Herr der Ringe – Eine Vorlesereise (Sechstes Buch)

Eine illustrierte Vorlese-Reise (Teil 6):

Der Herrn der Ringe als Vorleselektüre ist an sich bereits eine Herausforderung … vor allem an die/den Zuhörende*n 😉
Aber wenn die Zuhörende eine 92-Jährige ist, wird die Sache interessant.

Tolkien hat offenbar einen Faible für düstes Cliffhanger. Nachdem das fünfte Buch wiede reinmal dunkel … nahezu hoffnungslos endet, arbeitet sich das sechste Buch relativ schnell aus der völlig desaströsen Stimmung in eine verhalten hoffnungsträchtige.

Illustrationen zu "Der Herr der Ringe"

Quelle: Midjourney/ Ralf H. Schneider

Texte zu den einzelnen Etappen

Mit dem sechsten Buch geht “Der Herr der Ringe” zu Ende. Auch wenn meine 92-jährigen Zuhörerin nicht wirklich alles im Detail mitbekommt, so bewirkt die Beschreibung der Reise von den Gefährten des Ringträgers doch etwas in ihr. Inzwischen bekommen genAI-Illustrationen wie von Midjourney in der Phantastik-Szene zuweilen die Rolle eines Vorboten des Untergangs, was mir ab und an etwas den Spaß nimmt. Aber solange die Illustrationen dem Vorlesen dienlich sind, bleibe ich dabei.

Sechstes Buch

Wenn’s bisher immer mal wieder düster war, wird es nach der Flucht aus Cirith Ungol für Frodo und Sam so richtig desaströs und hoffnungslos!
Zwar konnten die beiden Hobbits entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aus den Fängen der Orks entkommen, aber weder ihre Kleidung noch ihr Proviant sind für die weitere Wanderung ausreichend. Und selbst, wenn, haben sie noch dutzende Meilen ohne Deckung durch Feindesland vor sich. Selbst wenn sie kräftig und ausgeruht wären, läge der Schicksalsberg in schier unerreichbarer Entfernung. Frodo kann sich nur noch mühsam voranschleppen und Sam überlässt seinem Herrn die allerletzen Vorräte.
Tolkien fährt wirklich alle Geschütze auf, um den guten Ausgang der Ring-Queste so unwahrscheinlich wie möglich zu machen.

Was in den apokalyptischen Beschreibungen allerdings fehlt, sind die Details der körperlichen Beschwerden. Nach der Vergiftung durch Kankra und der Ork-Folter, müsste Frodo sich mehr als einmal seines Mageninhalts entleert haben 🤮 und vor lauter Verletzungen und Knochenbrüche ein einzige Wunde sein🤕. Während in Action-Filmen sich gefühlt nach 5 Minuten der erste Charakter übergibt, sind derlei Körperdysfunktionen in Tolkiens Welt ein Tabu. Wann waren die Hobbits eigentlich das letzte Mal hinterm Busch/Fels? 🤔

Im Homecare passiert es immer wieder, dass sich der Magen- und/oder Blasen-/Darminhalt unkontrolliert aus dem Körper verabschiedet und sowohl für die professionellen wie auch die familiären Pflegekräfte semi-angenehme Arbeit nach sich zieht.
In der Phantastik könnten diese Aspekte durchaus häufiger (realistischerweise) Teil der Geschichte sein. Es gehört schließlich zum Gesamtbild dazu 😋

Die von Tolkien so akribisch und mühsam aufgebaute Spannung löst sich plötzlich im letzten Kampf zwischen Frodo und Gollum, der auch ein Stellvertreterkampf zwischen Licht und Schatten ist, wobei die Grenzen durchaus fließend waren. Und die vermeintliche Schwäche der Hobbits, Gollum am Leben zu lassen, stellt sich am Ende als alles entscheidende Stärke heraus und der Feind wird durch seine eigene Schöpfung besiegt. Und wieder sind es die Adler, die in letzter Minute für die Sicherheit der Gefährten sorgen. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, die Begrüßung von Frodo und Sam in Aragorns Feldlager hätte meine Stimme beim Vorlesen nicht kurz versagen lassen. Schon merkwürdig, dass mich diese Szene jedes Mal ergreift 🥹 Meine Seniorin war, glaube ich, etwas überrascht, dass der Showdown dann doch ziemlich schnell vorbei war. Nach einer kurzen erläuternden Zusammenfassung, bestätigte sie dann, dass das alles ihre Zustimmungt findet. Mehr kann man nicht verlangen 😉

Die Art und Weise, wie Tolkien den Herrn der Ringe zu Ende erzählt, macht einmal mehr deutlich, dass es eben nicht nur um die Handlung geht. Die Einbettung aller vergangenen und gegenwärtigen Geschehnisse ist ihm genauso wichtig. Der Sieg über Sauron ist der Schlussstein des Dritten Zeitalters und damit der Beginn des Vierten. Es geht im Grunde um die Kontinuität der Dinge und die Akzeptanz aller Beteiligten, dass sie lediglich eine Aufgabe zu meistern haben, damit die Nachfolgenden ihre Rolle ausfüllen können. Die vielen Abschiede, die Tolkien einen nach dem anderen zelebriert, machen einem deutlich, wie natürlich die Vergänglichkeit, wie schmerzhaft der Verlust ist, aber damit auch der Beginn von etwas Neuem.

Auch wir nähern uns dem Ende der Geschichte und ein bisschen erstaunt es mich schon, dass sowohl Minni als auch ich mehr als nur durchgehalten haben. Wir hatten beide Spaß. Gut, dass ich schon weiß, welche Erzählung danach dran ist … #cliffhanger

Kaum sind die Schlachten geschlagen und die verbliebenen Gefährten wiedervereint, rufen die Heimat und die auf Eis gelegten Verpflichtungen eines profaneren Lebens auf alle Haupt- und Nebenrollen des Herrn der Ringe. Was sich unter der alle vereinenden Aufgabe zusammengefunden hat, löst sich allmählich wieder und kehrt zu den eigenen Lebenswelten zurück.
Schön, wie Tolkien den Sinn für das Alltägliche und Provinzielle ans Ende der Geschichte platziert, was sicherlich auch durch seine eigenen Nachkriegserfahrungen geprägt ist.

Nach der langen Zeit, die zwischen dem Buchanfang und dem -ende vergangen ist, versuche ich für meine Zuhörerin zwischendurch eine Brücke zu schlagen, um die alten Episoden, an die nun wieder angeknüpft wird, zu erinnern und versuche mich an kleinen Zusammenfassungen der ersten Kapitel. Womöglich erscheint es auch ihr so, als ob die Gestalten des Auenlandes Erinnerungen aus einem alten Traum sind und man gar nicht mehr weiß, ob das alles wirklich so passiert war.
Interessanterweise war ihre deutlichste Reaktion an der Stelle, als der anstehende 129. Geburtstag von Bilbo thematisiert wird, was Minni sehr beachtlich fand.

Die letzte kriegerische Szene im Herrn der Ringe ist mehr als “nur” Phantastik. Ich kann nicht umhin, in so vielem Parallelen zur gegenwärtigen Situation in Europe und der Welt zu sehen. Auch wenn es bekanntermaßen Tolkien fern lag, das damalige Zeitgeschehen in seiner Geschichte abzubilden, so ist es eine seiner Stärken, dass die hinter der Handlung liegenden Motive nur allzu menschlich und real sind.

Auch heute lassen sich viel zu viele von Brandstiftern verführen und von “Strolchen” (“ruffians”) einschüchtern. Es reicht in unruhigen Zeiten eben nicht, einfach abzuwarten und zu denken, dass alles schon von alleine wieder in Ordnung kommt.
Auch die friedliebenden Hobbits haben sich durch Resignation und Passivität in eine Sackgasse manövriert, aus der sie nur durch den Funken von tapferen Charakteren aufgerüttelt und zum Widerstand veranlasst werden können.

Die Szene in “Die Befreiung des Auenlandes” könnte aktueller kaum sein. Europa ist das Auenland.

Es ist vollbracht!

Wir haben mit Minni den ganzen Herrn der Ringe durchgelesen und meine 92-jährige Zuhörerin hat tapfer durchgehalten.

Auch wenn sie vielleicht der Handlung nicht immer so wirklich folgen konnte oder verstand, um wen es da gerade ging (die Namen der Charaktere und Orte können bei Tolkien durchaus herausfordernd sein), so schien sie sich doch an so manchem beschriebenen Bild festhalten und es sich vorstellen zu können.

Letzten Endes ging es vielleicht auch gar nicht um die Geschichte, die mich (mal wieder) am Ende, als es zum Abschied an den Grauen Anfurten kam, mit sich zog, so dass mir die Stimme kurz versagte und das ein oder andere Äuglein feucht wurde. Vielmehr ging es um die gemeinsam verbrachte Zeit am Ende des mal mehr mal weniger mühsam überstanden Tages. Minnis Welt, die meistens nicht mehr besonders abwechslungsreich und spannend erscheint, wurde so vielleicht ein bisschen weniger einsam. Ich denke, Tolkien hätte es gefallen, wenn er gewusst hätte, wie seine Geschichte, 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung auch das Leben einer 92-Jährigen in dieser Weise bereichern kann.

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