Geschichtenerzählen. Eines der ältesten Kommunikationsmedien der Menschheit. Und was gibt es Notwendigeres, als sich in den dunklen Monaten, die langen Abende mit noch dunkleren Geschichten zu versüßen? Und wer dachte, sie/er kenne schon alle Erzählungen über Wölfe und kann nicht mehr überrascht werden, wird vom Autor*innenkollektiv Winterworte eines Besseren belehrt.
In sieben völlig verschiedenen Geschichten werfen uns die Autor*innen in Welten an der Grenze zwischen Mensch und Tier. Dort, wo mal mehr Mensch im Wolf und dann mal mehr Wolf im Mensch ist als man auf den ersten Blick vermuten würde. Die Wortkünstler*innen brechen in Wolfswinter mit Stereotypen und spielen mit Klischees von dem Wolf zugeschriebenen, zumeist kulturell geprägten Eigenschaften und Charakterzügen. Die Geschichtenerzähler*innen entführen uns zum einen an mögliche reale Orte und Vergangenheiten aber auch in fiktive Zukünfte und Welten.
Gemeinsam vollbringen es die Phantastik-Autor*innen trotz oder gerade wegen ihrer Diversität zahlreiche Facetten des Wolfseins aufzuzeigen und vielleicht sogar in uns zu wecken. So, wie das in einem gut funktionierenden Rudel eben sein sollte.
Ausweglosigkeit erdrückt Jung und Alt. Die einen fügen sich ihrem Schicksal, die anderen suchen bei allen die Schuld, nur nicht bei sich selbst. Während die Mutter eines auf dem Land gefangenen jungen Mannes in hoffnungsloser Untätigkeit verharrt, tyrannisiert der Vater die komplette Familie und alle, die anders sind/denken/leben als er. In einer ländlichen Gemeinde, deren Einwohner*innen jegliche Perspektive aus den Augen verloren haben, werden, wie das wohl immer war, ist und sein wird, die Anderen, die Neuen, die Andersdenkenden zum Sündenbock und geraten ins Visier der selbsternannten Hüter von Recht und Ordnung. Garniert mit dem Mythos eines blutrünstigen Wolfes im dunklen und gefährlichen Wald bewegen sich die leicht erhitzbaren Gemüter in Richtung Eskalation. Doch die düstere Gefahr geht tatsächlich nicht vom Wald aus, sondern vom erdrückenden Klima aus Hass und Verzweiflung im Haus der Imkerfamilie und dem Dorf. Mir persönlich erschließt sich nicht ganz das Zusammenspiel des Plots, in dem vom Ambiente und dem gesellschaftlichen Rahmen her die Welt vor der Zeit von Gefrierschränken und Tiefkühlerbsen mit einer von der Imkerei lebenden Einsiedlerfamilie in der Jetztzeit verknüpft wird. Trotz der beabsichtigten Kürze, hätte ich mir zudem noch etwas mehr Hintergrundinformationen und die Stimmung abrundende Szenenbeschreibungen gewünscht. Marie Meier entwickelt spannend vom ersten Absatz an, allmählich dramatisch steigernd, den wölfischen Plan eines queeren jungen Mannes, der allerlei Mythen für den einen Zweck ge-/missbraucht: Sich aus der zerstörerischen Gefangenschaft verstaubten Stillstands zu befreien.
Von der ersten Zeile an spürt man sofort die Kälte und Stille des Winterwaldes. Doch einen Schauer bekommt man weder von den niedrigen Temperaturen, noch von der Bedrohung durch Wölfe, sondern von den Grausamkeiten der weißen, rassistischen Siedler*innen und die Selbstverständlichkeit, Menschen anderer Hautfarbe/Kultur als minderwertig zu behandeln und straffrei zu ermorden. In der Geschichte von Ariadne Geiling wird überdeutlich, dass keinesfalls der Wolf die Bestie ist.
Eine Wolfsgeschichte ohne Wolf? Was hat es mit der der Frau auf sich, die wie in einem Verhör einen Tathergang schildern soll, an dem immer weniger so wirklich plausibel ist? Stück für Stück setzt Nicole Hobusch die Teile eines Puzzles aneinander, das erst ganz am Schluss das Bild eines Wolf ergibt. Ein Wolf, der zwar freundlich, aber alles andere als normal ist.
Einer Partitur gleich, umspielen die Mensch-Wolf-Figuren wie Noten die endzeitliche Notation eines grausamen und ewigen Winters am dystopischen Ende menschlicher Zivilisation. Die Partnerschaft von Mensch und Wolf, die kleinste Form eines Rudels, durchstreift die Ruinen einstiger Städte, auf der Suche nach Wärme und Licht. Dort, wo die/der Einzelne versagt und in hoffnungslosem Dasein vor sich hinvegetiert, gebiert die Verbindung in Harmonie einen Neuanfang. Man kann gar nicht anders, als sich der als Lied geformten poetischen Kurzgeschichte von C. F. Srebalus anzuschließen und ihren mal sanften, mal dramatischen Tönen, gelenkt von einer unsichtbaren Dirigentin, entlang der Wolfsfährte zu folgen.
Nur noch wenige Orte auf der Erde entziehen sich der Entweihung durch die menschliche Hybris. Entlegene Gipfel im Himalaya, der Wohnstätte des ewigen Schnees, erlauben es noch, mythische Gottheiten und Dämonen zu beherbergen. Auch wenn sie sich meistens nicht für die kindlichen Versuche der Menschen interessieren, sie zu erreichen, so bestrafen sie doch fehlende Demut vor den Mächten der Natur. Mika M. Krüger entführt zu den entlegenen Orten auf das Dach der Welt, wo Wolfswesen jeden Fehler der Menschen mit dem Tod bestrafen.
Zwei kleine verschiedene Kinder, die nach einem vermeintlichen Verbrechen und einem darauf folgenden Vergeltungsakt als lebendes Zeugnis zerstörerischer Gewalt übrig bleiben. Während im Laufe der Zeit das Mädchen der vermeintlichen Opferfamilie zur Täterin wird, fügt sich der Junge seiner Opferrolle.
Pêcheuse führt uns in die zweite große Dunkelzeit der USA, als Sklaverei und Rassismus zumindest im Süden Normalität waren. Ein von seinem “Rudel” getrennter Wolf kann vielleicht für eine kurze Zeit lang domestiziert werden, aber auf lange Sicht, sucht er sich wieder ein neues Rudel. Doch was bleibt ihm, wenn das neue Rudel ihn nicht duldet? Er schützt es ein letztes Mal.
Nur, weil wir zu wenig von anderen Wesen wissen, dürfen wir uns nicht mit Klischees oder Mythen zufriedengeben. In Verbünden lebende Wesen wie Wolfsziegen sind nicht nur bei der Jagd effizient und vermeintlich gefährlich. Sie sorgen sich auch um ihre Mitglieder. Wahrscheinlich ist für einen funktionierenden Verband eine Grundvoraussetzung, das Leid der anderen zu erkennen und es zu lindern versuchen. Diese Empathie und Fürsorge endet zum Glück nicht an der Artgrenze. Und je länger man sich mit ihnen beschäftigt, umso mehr entdeckt man, wie ähnlich sie einem sind.
T. N. Weiss versetzt uns in eine Enemy Mine-artige Situation fern unseres Sonnensystems, bei der die Hilfe und Heilung körperlicher Verletzungen dazu beiträgt, emotionale Ängste zu überwinden.