Aiki Mira – Titans Kinder
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Kurz-Rezension:
Titans Kinder ist auf mehreren Ebenen ein guter und komplexer Aufbruch-Roman. Ein Aufbruch im Plot, bei dem ein neuer Lebensraum auf dem Saturnmond Titan erforscht und erschlossen wird; ein Aufbruch im Verhalten mit extraterrestrischem Leben; ein Aufbruch bei modernen Beziehungs-/Familienkonstellationen.
Da Mond und Mars den Menschen nicht mehr genügten, geht es bei Aiki Miras Roman gen Saturn, besser gesagt auf dessen Mond Titan. Alles beginnt mit der Reise zu Titan. Im Raumschiff befinden sich die Ingenieurin Sunita, Marlon und die Bioinformatikerin Rain, von denen nur zwei das wahre Ziel kennen. Marlon, das “Mädchen für alles”, wie Yvonne Tunnat ihn in ihrer wesentlich umfangreicheren und besseren Rezension so passend beschreibt, wurde von so gut wie allen belogen und war die ganze Zeit davon ausgegangen, es ginge auf den Mars. Doch das ist nicht das einzige Geheimnis, dass die Handlung in ungeahnte Bahnen lenkt. Schnell wird klar, dass jede*r ihre/seine Geheimnisse hat, die sich in irgendeinerweise zum gegebenen Zeitpunkt auf das Leben auf dem Saturnmond auswirkt. Erfrischenderweise kennt die Wahrheit bei Aiki Mira nicht nur eine Ebene und überrascht den ganzen Roman hindurch mit wohlplatzieren Twists.
Leben … das Leben als solches ist ein weiterer von Mira aufgespannter Fächer an Varianten. Als die drei Reisenden auf dem Saturnmond ankommen, wird allmählich klar, dass es sich nicht nur um Grundlagen in Exobiologie geht, sondern um das wie so oft selbstsüchtige Eingreifen des Menschen in die Natur. Diesmal allerdings in die Evolution eines von der Menschheit noch verschonten Himmelskörpers. Die zuerst erfolgreiche, aber geheime Manipulation von Leben gerät bald schon außer Kontrolle und findet eigene, die Protagonist*innen und die/den Leser*in überraschende Wege.
Titan wird durch menschliche Wissenschaft verändert, ohne dass sie dafür über die gar nicht so unreflektierte ethische Legitimation verfügt. Auf der anderen Seite vermag der Mond die Menschen auf unvorhersehbare Weise zu verändern und das nicht nur aufgrund der eigentlich für Menschen lebensfeindlichen Bedingungen und der zwangsläufigen Isolation in einer extraterrestrischen Forschungsstation, sondern wesentlich tiefgreifender.
Die Konstellation des anfänglichen Dreiergespanns wird durch das Aufeinandertreffen mit den bereits in der Titan-Station lebenden Forscher*innen völlig auf den Kopf gestellt und neu geordnet … analog zu den im wesentlich kleineren Maßstab gentechnischen Versuchen im Labor der Station … mit aber ähnlich unvorhersehbaren Ergebnissen.
Aiki Mira ist es nicht nur wichtig, auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, die uns heute noch nicht möglichen oder bisher nicht durchführbaren Verfahren zur Manipulation der Evolution in die Handlung einzuweben, ohne sich der Versuchung des Info-Dumping hinzugeben, sondern macht die Beziehungen der Charaktere und ihrer sozialen, kulturellen und geschlechtlichen Besonderheiten zur Grundlage der Handlung.
Die Wahl, als Ort der Handlung einen Mond und nicht den Mond auszusuchen, macht das Setting besonders spannend und auch geheimnisvoll. Wie schon Arthur C. Clarke sich den Jupitermond Europa als etwas sehr Besonderes für altes/neues Leben erwählte, nutzt Aiki Mira die atmosphärischen und geophysikalischen Gegebenheiten auf Titan, um trotz aller menschenunfreundlichen Bedingungen, Neues entstehen und Altes entwickeln zu lassen. Und das gelingt Aiki Mira in komplexer Weise, ohne es zu kompliziert werden zu lassen – und das sowohl auf Mikro- und Makroebene, die ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.
Völlig zu Recht wurde Titans Kinder für den Kurd-Laßwitz-Preis 2023 nominiert und ich kann’s kaum erwarten, das im selben Jahr ebenfalls von Aiki Mira nominierte und als bester Roman ausgezeichnete Werk Neongrau zu lesen.
Titans Kinder bezeichnet sich selbst als Space-Utopie, ist aber, ohne mich allzu sehr mit (Sub-)Genre-Grenzen auszukennen bzw. Wert darauf zu legen, für mein Dafürhalten auch Entdeckungsliteratur und Hope Punk. Entdeckungsliteratur, weil es an eine Geschichte über bisher unentdecktes Land und dessen Besiedlung erinnert und Hope Punk, weil die Grundstimmung einer fremden und durchaus gefährlichen Zukunft eher positiv und hoffnungsvoll ausfällt.
Am Ende zählt für jeden Ort, dass sier ihn sich zu einem Zuhause macht und sier sich mit Wesen umgibt, die Familie sind, ob genetisch verwandt oder nicht.