Vergänglichkeit des Wissens
Nicht erst seit der Omnipräsenz enzyklopädischer Informationen aus dem “Experiment” Wikipedia beschäftigt die Frage nach der Vergänglichkeit bzw. der Unvergänglichkeit von Wissen berufene und unberufene Gemüter. Während die Einen darüber klagen, dass das Netz nichts vergisst, quält die Anderen die Wahl nach dem langlebigsten Medium, auf dem Wissen für die Nachwelt erhalten werden soll. Das Fass der Diskussion, ob es sich dabei um Wissen oder Information handelt, möchte ich hier erst gar nicht aufmachen. Auch wenn es sich meines Erachtens lediglich um Informationen handelt, klingt die Bezeichnung Wissen wesentlich bedeutungsträchtiger 😉 .
Ist Wissen, entsprungen aus dem Geist eines Genies bedeutsamer als das Konglomerat vieler Köpfe (von denen der ein oder andere durchaus auch genial sein darf)? Ist die Zeit individueller Errungenschaften menschlicher Intelligenz bis auf Weiteres vorüber? Immer umfassendere Forschungsverbünde und Infrastrukturen wie z.B. die D-Grid-Initiative deuten darauf hin, dass die Zeiten viel zitierter Universalgenies wie Goethe, Leibniz oder da Vinci unbeachtet verblasst sind. Stattdessen werden herausragende Leistungen wohl nur noch aus dem Kollektiv die Welt verändern. Sicher wird noch immer namhafte Wissenschaftler (ob Nobelpreisträger oder nicht) stellvertretend für die Sache stehen … aber die Verantwortung wird schon seit langem auf den Schultern vieler verteilt. Umso schwerer kann man im Nachhinein eine Person für etwaige Spätfolgen oder Kolateralschäden zur Verantwortung ziehen, was sich durchaus auch als bequem herausstellen kann.
Ist diese Entwicklung zu verurteilen? Steht die ‘Loseblattsammlung der Dilettanten’ (und hier möchte ich ‘Dilettant’ ohne negative Konnotation verstanden wissen, frei nach Goethe) Wikipedia stellvertretend für den Verfall von Genialität?
Keine leichte oder endgültig zu beantwortende Frage, die wir der Technikgeschichte der Zukunft überlassen müssen.
Haben wir aber denn eine Alternative? Können wir an traditionellen Medien festhalten, ohne das Weltwissen zu gefährden? Oder berauben wir gerade durch die Speicherung des Wissens auf fragilen Medien kommende Generationen um ihr Kulturerbe?
Mein vorläufiger (!) Schluss aus der Debatte über Langzeitarchivierung und kollaborative Wissenssammlungen sieht wie folgt aus:
Sowohl übermittelbare Wissenmedien als auch der nicht fixierbare Prozess des Lernens sind gleich wichtige Bestandteile unserer Entwicklung. Für beide Bereiche wird nie ein Optimum entwickelt werden, beide Bausteine aber müssen der jeweiligen Kultur angepasst bleiben. Verharren in etablierten Traditionen muss mit visionärem Innovationsglauben abgewägt werden. Weitaus wichtiger als Medien und Prozesse sind meines Erachtens die Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Mitsprachemöglichkeit an der Entwicklung von Wissen. Auch wenn neue Medien alte Ordnungen durchrütteln und beizeiten chaotisch wirken und auch sind, kommt es auf die lebendige Auseinandersetzung mit zeitgemäßen Zuständen an, woraus dann jede Generation ihre eigenen Wissensräume auszugestalten vermag. Denn eines sollten wir nicht vergessen: Wissen ist ein Prozess … kein Zustand!
Schön und diskussionswürdig zugleich soll hier Andrian Kreye von der Süddeutschen Zeitung zitiert werden:
“Denn eines hat die Geschichte bewiesen – jede Flucht unter dei Fittiche starker Individuen hat zu weit größeren Katastrophen geführt, als das Chaos der Freiheit.”
[zuerst veröffentlicht bei http://interretiatus.wordpress.com]