Lernen der Zukunft – Oder: Welchen Grund zu lernen haben wir in Zukunft?
Ein Kommentar
Lernen ist nicht wissen – oder hieß es: Glauben ist nicht wissen? Im Grunde ist beides nicht weit voneinander entfernt. Wenn man etwas glaubt oder etwas weiß, ist man fertig. Man durchlief einen Prozess der Informationsaufnahme, der persönlichen Überprüfung und kam zu einem Resultat. Bei beidem, dem Glauben und dem Wissen, erreicht man einen zumindest temporären Stillstand. Prozess abgeschlossen. Der Nächste, bitte!
Beim Lernen ist das etwas anderes. Wenn ich etwas lerne, dann bin ich mittendrin. Bin mitten in der Arbeit, im Ringen mit den Informationen. Ich versuche meine intellektuellen Ressourcen zu nutzen, um zu verstehen. Wenn ich lerne, gebe ich (zumindest mir selbst) zu, dass ich etwas noch nicht verstanden habe und teile mir und meinen Kommilitonen (also im etymologischen Sinne Mitstreitern oder “Waffenbrüdern/-schwestern”) mit, dass ich mich in einer Art Kampf, in einem Prozess befinde, von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt gewonnen oder wie lange er noch andauern wird. Zu sagen, ich lerne, zeugt von einer gewissen Demut. Es signalisiert aber auch, dass ich neugierig bin und etwas zu ändern, zu erweitern gedenke – nämlich meinen Horizont. Aber was ist der Grund, etwas lernen zu wollen?
Manches im Leben muss man lernen. Eine Wahl bleibt da nur selten. Die Lebensumstände oder andere Menschen zwingen einen dazu, zu lernen. Ob es die heiße Herdplatte ist oder die Regeln, wie man den die Spaghetti so effizient wie möglich in seinen kleinen Kindermund zu transferieren hat. Einige Dinge lernt man über Schmerz, da man nicht möchte, dass es noch einmal weh tut. Manches will man lernen, weil es die anderen auch können. Man ahmt etwas nach und lernt allmählich, wie es funktioniert. Das ist meist Motivation genug.
In unserem Bildungssystem gilt es anderen Motiven zu folgen. Nur selten ist Schmerzvermeidung der Zweck unseres Lernprozesses. Wenngleich eine Klassenarbeit zu verhauen oder eine Ehrenrunde in der Schule zu drehen durchaus auch schmerzhaft sein kann. Ich bin mir nicht sicher, ob heutzutage noch der mahnende Zeigefinger en vogue ist, mit dem die Eltern, Großeltern und Lehrer*innen ihren Schützlingen weiß machen wollen, dass man nicht für die Schule, sondern für’s Leben lerne. Noch in den 80er und 90er Jahren war das zumindest so. Es war der finale Spruch, wenn die Erwachsenen nicht mehr weiterwussten.
Inzwischen scheinen es die Eltern zu sein, die die Lernmotivation ihrer Sprösslinge aufbringen, nicht mehr die Kinder und Jugendlichen selbst. Mit dem Wissen – nein, eigentlich eher dem Glauben – dass nur dann ihr Kind ein erfolgreiches Berufsleben zu erwarten hat, wenn die richtigen Weichen in Schule und Hochschule gestellt werden, übernehmen die Eltern einen Großteil der Wünsche und Ängste, die eine Lernmotivation sein können. Nur wenn die perfekte Kindertagesstätte mit den fähigsten Erzieher*innen, die ideale Grundschule mit dem zukunftorientiertesten Angebot an Sprachen und Wirtschaftswissen, die renommierteste Hochschule mit den höchstgerankten Wissenschaftler*innen gefunden wurde, haben die Eltern alles getan, um ihren Kindern den Weg für die Zukunft zu ebnen.
Die perfekte Karriere ist das Ziel. Immer mit der (irrigen?) Annahme einhergehend, dass sich dadurch das Glücklichsein schon automatisch einstellen wird. Die wortwörtliche ‘Bildung’ des Menschen, also das Bilden einer Persönlichkeit gemäß ihrer Ressourcen und Neigungen, inklusive des Verstehenwollens der Welt, steht dabei weit abgeschlagen im Hintergrund.
Der Bologna-Prozess mit seiner Harmonisierung europäischer Studienabschlüsse und der damit verbundenen Verschulung der Studiengänge, bietet zwar die Möglichkeit, alle möglichen (und unmöglichen) Studienmodule anerkennen zu lassen, zwängt aber gleichzeitig die einst individuellen, oft mäandrierenden Bildungswege in ein enges Korsett. Der Druck, gemäß des vorgegebenen Rasters in der Regelstudienzeit seinen bestmöglichen Abschluss zu schaffen, steigt durch die nun vorhandene Vergleichbarkeit von Zahlen. Zu den Noten, gewann die Semesterzahl enorm an Bedeutung und die ECTS-Punktezahl beherrscht seit Bologna nahezu vollständig das Denken der Studierenden und Dozierenden. Mit den Zahlen wird gehandelt und gefeilscht und sowohl das “Warum lerne ich?” als auch das “Was möchte ich lernen?” gerät in den Hintergrund. Inzwischen muss gezwungenermaßen jedes Bachelorstudium nach derselben Zeit abgeschlossen sein. Gleichgültig, ob der für das Fach erforderliche Stoff behandelt oder verstanden wurde.
Der rechtzeitige Abschluss steht im Vordergrund, nicht mehr der Prozess des Lernens und Studierens. Auf individuelle Ressourcenvarianten kann dabei schon gar keine Rücksicht genommen werden. Je früher man (freiwillig oder fremdbestimmt) aus dem Standardprogramm ausschert, umso schneller steigt der Druck, wieder in die Spur zu kommen. Der Grund: Auf dem Papier dürfen nur niedrige Zahlen stehen. Es muss schon eine gegen Eins tendierende Abschlussnote und höchstens diejenige Anzahl von Schuljahren oder Semestern sein, die der Regel entsprechen. Am besten man unterschreitet die Regelzeit, um frühstmöglich einen Wettbewerbsvorteil zu haben. Der psychische Druck nimmt so schleichend im Hintergrund zu und inzwischen erfreuen sich die psychologischen Beratungsstellen und Stressbewältigungsseminare immer größerer “Beliebtheit”.
Natürlich trifft das nicht auf alle Lernenden zu. Selig sind diejenigen, die aus reiner Neugier und Freude lernen. Ohne Druck, sich den Fächern zu widmen, die einen wirklich interessieren, für die man aus welchen Gründen auch immer, geeignet erscheint. Immer auch mit der Option, sich geirrt zu haben und von vorne anfangen zu können.
Die Wiege der Bildungskultur in der griechischen Antike, ihre Wiederentdeckung und Weiterentwicklung im Mittelalter, die Systematisierung im 18./19. Jahrhundert über das Bildungsbürgertum bis zur heutigen Reduktion von Bildung als reine Karrierestufe war ein langer Weg, an dessen Rand sich die Zivilisation stetig veränderte. Wie sollen wir aber in Zukunft lernen? Was bedeutet es, wenn Erlerntes in immer kürzeren Abständen überdacht werden muss? Wie halten wir die Frustration aus, dass wir niemals mehr den Zustand erreichen können, genug oder gar alles zu wissen? Und nicht zuletzt: Wie gehen wir in einer Zeit, in der Populismus grassiert, damit um, dass Menschen dazu animiert werden, aus blanker Angst lieber glauben, statt wissen zu wollen, lieber vereinfachen, statt verstehen zu wollen?
Bildung ist inzwischen zu einer Industrie mit ganz ordentlichen Umsätzen und eigenen Messeveranstaltungen geworden. Nur verständlich, dass sich Branchen an der Diskussion beteiligen, die nicht zwangsläufig die bestmögliche Bildung, sondern vielmehr den größtmöglichen Profit im Sinn haben. Hersteller werben für ihre meist digitalen Instrumente und Methoden und suggerieren, mit ihren Werkzeugen das Lernen immer einfacher zu ermöglichen. Im (für die Firmen) Idealfall über kostenpflichtige Abonnements oder teure Lizenzen, die sich halbjährlich überleben und aktualisiert werden müssen.
Wir sollen also einfacher, aber teuer lernen. Ist es aber nicht so, dass zum Lernen auch die Anstrengung gehört? Manchmal sogar mehr als uns lieb ist? Gerne verwechseln wir bei der Bildungsdiskussion das Lernen mit dem Speichern. Das Abspeichern von Informationen und der Zugang zu Informationen kann sicherlich von außen optimiert werden. Das Lernen selbst ist aber nicht digital und muss mit unserem (“analogen”) Verstand gemeistert werden. Mein Lieblingsprozess hierbei ist das Appropriieren, also die Inbesitznahme von neuen Informationen in meinem (hoffentlich) schon vorhandenen Verstand. Es wird etwas Neues aufgenommen und mit dem bereits Vorhandenen verwoben: neues Wissen entsteht. Vermeintliche Abkürzungen, um einfacher zu lernen, gibt es meiner Ansicht nach nicht. Das ist leider nur ein schöner Selbstbetrug.
Was man aber tun kann, ist, für jeden Lernstoff und jede Lernform die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine dieser Bedingungen ist das schon erwähnte Lernmotiv. Eine andere, die Lernumgebung. Damit versteht man heutzutage gern eine digitale Plattform, über die man Lernmaterialien zugänglich gemacht bekommt, Aufgaben lösen und mit Kommilitonen und Dozierenden kommunizieren kann. Aber so wirklich bilden diese Lernumgebungen nicht die Umgebungen ab, in denen man individuell angemessen lernen kann. Sie optimieren die Erreichbarkeit des Lernstoffs und erhöhen die Kommunikationsmöglichkeiten. Aber hier ist die Quantität leider nicht wirklich ein Maßstab für die Qualität. Die meisten versuchen inzwischen sogar ihre digitalen Kommunikationsprozesse zu reduzieren statt sie zu erhöhen. Das vielfältige Kommunikations- und Informationsangebot überfordert so manche/n und hat statt effizientem Lernen, eher prokrastinatives Verhalten zur Folge.
Es muss sich also in Zukunft etwas ändern. Die intellektuellen Lernprozesse im Mensch selbst ändern sich voraussichtlich wohl eher nicht. Aber die Rahmenbedingungen, um wieder gut lernen zu können, sollten überdacht werden. Die Veranstaltung Learning Takes Place (#LearningTakesPlace18), durchgeführt vom Zukunftscampus und der Hochschulbibliothek am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) geht genau diesen Weg.
Am 12. Oktober 2018 fand im ZKM ein BarCamp mit dem Motto “Wie/Wo wollen wir lernen?” statt. “Wie lernen wir heute und in Zukunft? Welchen Raum benötigen wir dafür? Und welche Rolle spielen dabei Universitäten, Bibliotheken, Museen, Schulen und andere Einrichtungen?” Diesen Fragen stellten sich die Teilnehmer des offen angelegten BarCamps und sammelten gemeinsam diejenigen Themen, die ihnen beim Lernen in der Zukunft wichtig erschienen. In Arbeitsgruppen aufgeteilt, diskutierten sie anschließend, wie die Ziele und Bedingungen umzusetzen wären und was man dabei bedenken sollte. So entstehen völlig freie Gedanken zu einem Lernen der Zukunft. Ohne sich dabei über realistische Verwirklichungskonzepte oder die finanzielle Umsetzung Gedanken machen zu müssen. Es kommt nicht von Ungefähr, dass das BarCamp in unmittelbarer Nachbarschaft der ZKM-Ausstellung ‘Open Codes‘, in der mit neuartiger Medien- und Kunsterfahrung experimentiert wird. Gerade die Macher der Ausstellung und ihre Kooperationspartner bereiteten mit Open Codes einen Nährboden, der für offenes Denken über das zukünftige Lernen schafft. am 9. November geht Learning Takes Place mit einer Ausstellung und einem Meet-Up in die nächste Runde.
In dieser Phase der Überlegungen mag es wenig wahrscheinlich oder auch absurd erscheinen, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, deren Voraussetzungen (noch) gar nicht Realität sind. Dennoch ist es ein wichtiges Gedankenexperiment, um sich schon in der Gegenwart darüber im Klaren zu werden, wohin die “Bildungsreise” gehen könnte, sobald sich die Rahmenbedingungen ändern. Es erlaubt undenkbare Gedanken, die vielleicht nur einen kleinen, aber dennoch einen erkennbaren Lichtschimmer auf Prozesse wirft, die wir heute ändern könnten. Denn eines ist sicher: ändern wird es sich. Nur das Wie ist noch unklar.