Judith & Christian Vogt – Ich, Hannibal
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Kurz-Rezension:
Mit “Ich, Hannibal” ist den Vögten Judith und Christian mal wieder ein Riesenwurf gelungen. Sie kombinieren sehr gelungen Phantastik mit einem historischen Roman und üben … so ganz nebenbei … naja … eigentlich gar nicht mal soooo nebenbei … Kritik an einer von Testosteron geprägten Männerwelt, die, trotz dem sie ständig in die Sackgasse rennt, seit Jahrtausenden keine grundlegende Veränderung erfahren hat.
Die Grundlage eines Umdenkens ist für die beiden Vögte das Gedankenexperiment, dass der Karthager Hannibal auf seinem Kriegszug gegen Rom einst eigentlich eine Frau gewesen ist.
So merkwürdig das der/dem Leser*in zuerst erscheinen mag, so plausibel und konsequent führen uns Judith und Christian Vogt durch eine historische Etappe des antiken Roms, in der die ewige Stadt nahe am Abgrund stand.
Dabei verweben die Vögte wie ganz selbstverständlich römische, keltische, griechische, iberische und karthagisch Rituale und Gepflogenheiten der Antike mit Mythen und ihren Wesen zu natürlich wirkenden fiktionalen Handlungssträngen, die im Grunde Ausgangsstoff für neue Mythen ist.
Die Geschichte wird aus der Sicht dreier Frauen erzählt: Hannibal (aka Himilke), Tamenzut und Fulvia. Alle kommen aus unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturkreisen. Was sie eint sind ihre leidvollen Erfahrungen in einer patriarchalen Gesellschaft nicht zu ihrem Recht zu kommen. So unterschiedlich ihre Ausgangspunkte sind, so unabwendbar steuern sie gemeinsam auf ein sie verbindendes Schicksal zu, das das Potenzial hat, die Weltordnung ins Wanken zu bringen.
Nicht Männer und ihre gewohnt narzisstischen Entscheidungen dominieren die Handlung, sondern die von verschiedenen Motiven geprägte Frauen unterschiedlichen Alters und Herkunft, die sich immer wieder der allzu selbstverständlichen, uralt tradierten männlichen Gewalt und Dominanz entwinden müssen, um ihren eigenen, selbstbestimmten Weg gehen zu können. Dabei sind bei den Vögten die Männer aber nicht durchweg die mächtigen, aber tumben Idioten, sondern unterstützen auch in liebevoll ausgearbeiteten Nebencharakteren die drei weiblichen Hauptfiguren.
Der kreative Umgang mit historischen Fakten und mythischen Motiven regte beim Lesen immer wieder meine Phantasie an … beizeiten in eine verwirrende Richtung und zwischenzeitlich flackerten merkwürdige Assoziationen bei mir auf. Wenn ich mir zum Beispiel den Trek im 3. Teil des Buches zu visualisieren versuchte, wie Tamenzut in Begleitung diverser mythischer Bestien auf dem Mantikor ritt, musste ich unwillkürlich an ein etwas aus den Fugen geratenes RPG denken, in dessen Kampagne ein Charakter wohl allzu eifrig Monster “gesammelt” hat.
Und ich hab’ keine Ahnung warum, aber bei der Szene, als die Verschwörer sich das letzte Mal in Fulvias Haus trafen, poppte eine Szene aus “Das Leben des Brian” auf … “Mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkassen. Was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan?”
Aber das sind sicher wohl sehr individuelle Absonderlichkeiten meinerseits 😉
Ohne es wirklich nachgeprüft zu haben, sind die Schilderungen des Kriegszugs Hannibals und der historischen Schlachten durchdrungen von einer akribischen Recherche der beiden Autor*innen, was sehr viel dazu beiträgt, sich völlig in der mythisch überprägten historischen Schilderung zu verlieren.
“Ich, Hannibal” ist mal wieder ein Beleg dafür, dass es viel spannender ist, abseits der Mainstream-Stoffe zu stromern und Genregrenzen eigentlich eine Illusion sind, die es aufzubrechen gilt. Die Vögte haben mit diesem Band eine spannende, unterhaltsame, gesellschaftskritische und vielleicht auch geschichtskritische Geschichte kreiert, die zu lesen sehr lohnt.
"Rammmanöver" (S. 299)