“Etomi – Erwachen” von Jol Rosenberg ist ein dystopisch-utopischer Roman in einer Welt, die zwar reguliert ist, aber einen Preis hat, der das Leben kostet.
Ob beabsichtigt oder nicht, drängten sich mir unmittelbar nach den ersten Seiten alte Erinnerungen aus der Kindheit auf. Erinnerungen an einen Film, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, sich aber dereinst in mein Hirn eingebrannt hat. Ich spreche von “Logan’s Run – Flucht ins 23. Jahrhundert“.
Wie schon im Streifen von 1976, fesselte mich auch bei “Etomi – Erwachen” sofort die Vorstellung von einer Zivilisation, die ihre Mitglieder nur ein klar definiertes Alter erreichen lässt, um die Population kontrollieren zu können. Die Vorstellung, in einer Welt zu leben, in der ein “humaner” Demozid an der Tagesordnung ist und von allen vollständig, akzeptiert, ja nahezu herbeigesehnt wird, erschreckte mich schon beim Film von Michael Anderson mit Michael York, Jenny Agutter, Farrah Fawcett und Peter Ustinov.
“Etomi – Erwachen” ist aber keinesfalls ein Remake des Romans von William F. Nolan (den ich noch nicht gelesen habe), denn mit der Parallele zum genannten Setting endet auch schon die Ähnlichkeit. Zwar flüchtet auch der Hauptcharakter Lea aus der Gesellschaft, die sie terminieren möchte mit einer zweiten Person namens Ruben, doch Jol Rosenbergs Charaktere und ihrer Lebenswelten sind weitaus differenzierter gezeichnet als dies beim Film der Fall ist.
Überhaupt sind nicht nur die Charaktere besonders ausdifferenziert gestaltet, sondern man merkt, dass Jol Rosenberg bei der Erzählung der Beziehungen der Charaktere untereinander viel Sorgfalt verwandt hat und diese ihr sehr wichtig waren.
"Chandra lachte. Nein. Gott ist kein Programm." (S. 250)
Vor allem wird die/der Leser_in in eine Welt der Gerüche geworfen, was in einem Roman ziemlich unüblich ist. Was normalerweise durch visuelle Beschreibungen übernommen wird, ergänzt Rosenberg geschickt und überaus intensiv mit Szenenbeschreibung der olfaktorischen Reise der Protagonistin an einen Ort von einer Parfumflasche. Auch wenn es sich eher um weniger angenehme Gerüche handelte, besticht die zuerst utopische, dann doch eher dystopisch anmutende Welt Leas durch Details, die man so eher selten liest und man sich wirklich dabei ertappt, wie man die Nase rümpft.
Auch wenn’s albern klingt, so traf mich eine Episode im Roman besonders.
<spoiler> Denn es ist schon etwas gruselig, seinen Namensvetter sterben zu lesen und das auch noch auf eine sehr plastisch beschriebene Art. Nicht, dass ich gleich Albträume gehabt hätte, aber ein dezenter Schauer war schon drin. </spoiler>
Die Eigenart der Protagonistin Lea, sich in unsicheren Phasen durch Schminken sicher fühlen zu wollen, ist zuweilen zwar etwas verstörend, aber auch wieder entlarvend und fügt dem allmählich größer und bunter werdenden Charakter-Puzzle diesen nicht unwichtigen Baustein ihres Unterbewusstseins hinzu.
Möchte man Leas Charakter in einem kurzen Biogramm beschreiben, würden mir zuallererst Eigenschaften wie sehr naiv, gutherzig und egoistisch einfallen. Doch dass das viel zu kurz greift, weiß man auch sofort, wenn man Jol Rosenbergs Geschichten kennt. Das “Mehr” unter der Oberfläche braucht bei Lea zwar etwas länger, um durchzubrechen, aber die außergewöhnliche “Umpflanzung” von Eos nach Aranus hinterlässt ihre Spuren und trägt interessante Früchte.
"Es musste etwas Besseres geben. Etwas Besseres als Drogen und Alkohol, zu viel Arbeit und zu wenig Schlaf." (S. 266)
Eines der ersten Lebewesen, die Lea in der “Neuen Welt” begegnet ist ein Mensch und doch keiner. Jol Rosenberg nutzt den Point of View des Klons Nori, um die Situation eines “unmöglichen” Zwischenwesens als Produkt einer zukünftigen Gesellschaft zu verdeutlichen. Weder Mensch noch Maschine, weder mit freiem Willen ausgestattet noch vollständig einem fremden Willen unterworfen, voller Sehnsucht nach seiner im zugewiesenen Rolle im durchgetakteten Gefüge und doch neugierig auf die Welt. Überaus spannend, da die Figur sowohl an einen Golem, einen harmlosen Borg, Pinocchio und auch Data von der Enterprise erinnert. Ein aus dem Nest geworfener Begleiter Leas, der seiner Daseinsgrundlage beraubt wurde und schwindet.
"Sie reichte ihm nur bis zur Brust, aber sie bekam es hin auszusehen, als sehe er zu ihr auf." (S. 236)
Durch Leas Eindringen in Aranus 3beta stößt sie eine Kettenreaktion an, die Noris Leben maßgeblich umlenkt und auch Ruben, Dinesh, Josa, Nelson, Bora und alle anderen in einer nicht immer angenehmen Art und Weise beeinflusst, wie es keine_r von ihnen vorausgesehen hat.
Das Ende ist … angemessen gemein … sehr abrupt und ein Cliffhanger mitten beim Einatmen … Ob ich solange die Luft anhalten kann, bis Band 2 erscheint … man wird sehen.