James A. Sullivan – Schlangen und Stein. Das Erwachen der Medusa
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Rezension:
“Schlangen und Stein” von James A. Sullivan ist ein fulminantes Werk der Progressiven Phantastik … und das in vielfältigem Sinne.
Zum einen sind seine Protagonist*innen alles andere als stereotyp und haben die Grenzen ihres Geschlechts längst überwunden. Zudem loten sie die Übergänge ihrer Sexualität in zahlreichen Spielarten immer mal wieder aus. Zum anderen ist das Setting ein inspirierender Mix aus Antike, Mittelalter und Gegenwart. Man merkt Sullivan seine Liebe zur griechischen Antike aber auch zu mittelhochdeutscher Literatur an, die viel zu selten ihren Weg in neuzeitliche Phantastik findet.
Das wohl nie gelöst werdende Rätsel um Kyot ist ein wichtiges Verbindungsglied seiner sich bereits seit der griechischen Antike auf der Flucht befindenden Gorgonen mitsamt ihrer Verbündeten und der Neuzeit.
Er schlägt Brücken zwischen antikem Mythos, “realen” machtvollen Wesen und Gruppierungen des 21. Jahrhunderts fragwürdiger Moral. So, wie diese fiktionale Verbindung scheinbar voneinander getrennter historischer Epochen, so wird auch deutlich, dass zwischen”wesenliche” Verbindungen dem Autoren überaus wichtig sind. Kaum ein Gedanke bleibt zwischen den Gorgonen, den Verbündeten … zumeist Gargoyles und nicht ganz so normalen Menschen unausgesprochen (ob verbal oder in Gedanken).
Sullivan erzählt eine alternative Geschichte, in der Medusa nicht das Monster war, das Hesiod, Ovid, Herodot u.a. beschrieben. Seit der (durchaus möglichen) geschichtsverfälschten Rolle der Medusa im antiken Griechenland, befinden sich in Sullivans “Schlangen und Stein” die aus dem vorläufigen Sieg der Söhne des Perseus hervorgegangenen neun Medusenschwestern auf der Flucht. Schön früh in der Erzählung wird klar, dass nicht das mythische Wesen Medusa das Monster war/ist, sondern die sie bzw. ihre Schwestern jagenden Männer. Die zumeist von männlicher Hand verfassten antiken Geschichten prägten Jahrtausende den Mythos und so kennen (laut Sullivan) nur wenige die Wahrheit hinter dem Haupt der Medusa.
Eine schon lange währende Verfolgungsjagd treibt die Medusenschwester Sema und ihre Vertraute Elena quer durch Europa und über den Atlantik. Zu oft wurden sie auf der Suche nach den anderen Schwestern und dem Medusenhaupt im Laufe der Jahrhunderte verraten und trotz der Angst, von den Perseiden entdeckt und getötet zu werden, wagen sie immer wieder, sich an Vertraute zu binden und mit ihnen gemeinsam die Zusammenkunft der Schwestern vorzubereiten.
In Sullivans Roman spielen reale Städte wie u.a. Köln, London und Arles eine wichtige Rolle, da sich dort über die Jahrhunderte hinweg Architektur und Netzwerke erhalten haben, die den Protagonist*innen mal mehr und mal weniger freundlich gesinnt sind. Wieder ist das Verbinden von Altem und Neuem ein zentrales Motiv von Sullivan, wie auch die charmante Integration des (vermeintlich) fiktiven mittelalterlichen Dichters Kyot und des historischen Dichters Wolfram von Eschenbach in die griechisch-antike Welt der Gorgonen. Das daraus entstehende Geflecht aus menschlichen und weniger menschlichen Geheimbünden im Untergrund europäischer Städte verschafft der Geschichte Möglichkeitsräume, die bei den Lesenden noch lange nach der letzten Seite von “Schlangen und Stein” bei der Betrachtung von steinernen Statuen womöglich Zweifel aufkommen lassen, ob sich das ein oder andere Steinwesen nicht doch ein wenig bewegt haben mag.
Die ineinander verwobenen Epochen und die verflochtenen Beziehungen der Charaktere funktionierten für mich persönlich leider nicht vollständig. Auch wenn ich das Ergründen von Gefühlswelten und Zweifel in der Phantastik als sehr bereichernd empfinde und Sullivan bei den “Guten” besonders viel Wert auf Rücksichtnahme, Wertschätzung und dem Aushandeln von Argumenten auf Augenhöhe legt, so färben sich die Dialoge für mich beizeiten mit etwas zu viel Pathos.
Die inneren Dialoge, die oft auf telepathischer Ebene geführt werden, waren für mich beim Lesen oft anstrengend. Das mag auch daran gelegen haben, das ihnen die direkte Rede fehlte und alle Stimmen nur in einem Geist zu vernehmen, es mir erschwerte, nicht durcheinander zu kommen.
Die sehr rücksichtsvollen Dialoge und das fürsorgliche Verhalten innerhalb der Gemeinschaft war für meinen Geschmack auf Dauer auch sehr anstrengend und etwas zu viel des Guten. Das Erklären von Gefühlen und Begründen von Gedanken und Tätigkeiten ermüdete mich im Laufe der Kapitel etwas.
Das Leben als Flüchtende schildert Sullivan sehr eindringlich und nur die unumstößliche Loyalität und der Glaube an ein gemeinsames Ziel, lässt alle Figuren das Leid und die Strapazen erdulden, allerdings hätte es für meinen Geschmack durchaus ein paar weniger Zwischenstationen dafür mehr Nebenhandlungen geben können. Gerade in London wird für mein Dafürhalten zu lange Spannung aufgebaut und gehalten, die sich dann im Twist im Hause Durand etwas dünn entlädt … was Sullivan aber dann mit einem Twisttwist schnell wieder interessant werden ließ.
Alles in allem eine gelungene Verbindung (!) von antikem Mythos über mittelalterliche Dichtung hin zu neuzeitlicher progressiven Phantastik.