Christian Vogt – Mutterentität / Im Schatten des Leviathans
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Kurz-Rezension:
“Im Schatten des Leviathans” ist nach “Mutterentität” ein fulminantes Sequel aus der Welt der “Die 13 Gezeichneten”.
Wem schon “Mutterentität” gefallen hat, die/der wird “Im Schatten des Leviathans” lieben.
Und da das Lesen der beiden Bände von Christian Vogt nahtlos ineinander überging, schreibe ich meine Eindrücke beider Geschichten hier in einem Schwung.
“Mutterentität” ist wie “Im Schatten des Leviathans” eine Novelle oder ein etwas kürzerer Roman (die genaue Abgrenzung habe ich noch immer nicht so völlig kapiert, aber um mir das Leben einfacher zu machen, stelle ich mich auf den Standpunkt, dass Genre- und Gattungsgrenzen eigentlich nur für lexikologisch infizierte Literaturwissenschaftler*innen bedeutsam sind), die mich an die Kurzgeschichten und den (wohl … nur weil jemand das mal so definiert hat?!) einzigen Roman von Edgar Allan Poe erinnert (“Die denkwürdigen Ereignisse des Arthur Gordon Pym” (Roman) und z. B. “Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaal”).
Wie schon der Titel des ersten Bandes der Schattenspiele-Reihe verrät, geht es im Grunde um eine KI, die im Hintergrund Fäden zu ziehen scheint, um ein unbekanntes und dubioses Ziel zu verfolgen. Allerdings scheint ihre Macht in der physischen Welt, jenseits ihrer mechanischen Webstühle begrenzt und bedient sich einerseits eines global agierenden Telekommunikationsunternehmens, diverser Instanzen ihrer Investigationsklasse und Menschen, deren profane Ziele der KI temporär von Nutzen sind.
Mit einem scheinbar trivialen Diebstahl in einem Museum beginnt das Abenteuer von Li-Zha und Kumari, deren Zuneigung für- und Respekt voreinander die Grundlage dafür sind, der Mutterentität und ihren Machenschaften Paroli zu bieten. Hinzu kommt eine Instanz der KI, die siebzehnte, um genau zu sein, die etwas anders ist und wahrscheinlich durch den Umgang mit anstrengenden Menschen und dem zufälligen Kontakt an ihrem physischen Ursprung, selbstständige Entscheidungen trifft, die sie vom Kollektiv entfremdet … Ähnlichkeiten zu Seven of Nine sind sicher rein zufällig.
Immer weiter und in einem rasanten Tempo werden die Charaktere in ein Netz aus Intrigen und Machtspielchen verstrickt, die ihnen die Entscheidung abverlangt, ob sie sich abwenden und ihrem einfachen Leben einigermaßen glücklich nachgehen oder aber sich einmischen und ihr Leben riskieren und damit das Schicksal der Welt mitgestalten sollen.
Spannend bis zur letzten Seite und deshalb war das Zuklappen des ersten Bandes zeitgleich das Aufklappen des zweiten.
“Im Schatten des Leviathans” ist ein aus mehreren Perspektiven erzähltes Abenteuer rund um eine Melville’sche Waljagd in einer Stranger Things-Welt mit Weltenbau-Anklängen von Ursula Le Guins “Earthsea – Die Saga von Erdsee”, in der mythische und profane Mächte an den Spielfiguren zerren. Dabei nutzt Christian Vogt ein diverses Setting, das in seiner bewussten Andersartigkeit herkömmlicher Phantastik den Zielen der Progressiven Phantastik folgt, nämlich der Entlarvung festgefahrener Un-Werte zu Lasten wenig gehörter Menschen jenseits der sogenannten tradierten Norm.
Dabei setzt der Autor nach dem ersten Band noch einen drauf und zieht das Tempo mächtig an. Während der erste Teil noch an Land und im Untergrund spielt, wählt er für den zweiten Teil das offene Meer und begibt sich in die Fußstapfen der Urmutter der Walfanggeschichten von Ismael, Kapitän Ahab und Queequeg. Dabei sind es gerade die unwillkürlich aufflackernden Erinnerungen an den Abenteuerroman von Melville und diverser Verfilmungen, kombiniert mit den gravierenden Unterschieden zur Vorlage, die die Jagd und das Beziehungsgeflecht an Bord der Kormoran (aka Pequod) so spannend und dynamisch machen.
Geschickt ist auch die Verbindung von Charakteren des ersten Bandes mit der Handlung im zweiten. Die Hauptfiguren von Mutterentität werden auf ganz natürlichem Weg zu Nebenfiguren in “Im Schatten des Leviathans”.
Neben einer Frau, die als Kapitänin das Sagen auf der Kormoran hat, sind überhaupt weibliche Charaktere wesentlich intelligenter und handlungsbestimmender als das typischerweise von männlichen Rollen übernommen wird. Das Enttarnen von vereinfachenden Klischees, Öffnen von stereotypen Schubladen und Niederreißen von Grenzmauern durchzieht beide Schattenspiel-Geschichten, ohne belehrend den Zeigefinger zu erheben, sondern führt in einer leichten Selbstverständlichkeit zu der Frage (bei mir zumindest), wieso mir derlei Muster nicht schon früher in der Phantastik unangenehm aufgefallen sind.
Aber die Kritik des Autors an in Stein gemeißelte, aber verstaubte und überholte Traditionen verbleibt nicht in der fiktionalen Ebene, sondern sickert, einem (hier aber hell-bunten) Schatten zwischen den Welten ähnlich, in unsere Realität.
Es wäre eine verwerfliche Verschwendung, würde da kein dritter Band folgen … aber zum Glück lassen diverse Andeutungen auf den letzten Seiten von “Im Schatten des Leviathans” Platz für Hoffnung.