Amt für Ehrenamt?
von noosphaere · Veröffentlicht · Aktualisiert
Blicke ich in die Prä-Coronazeit … „Präcoronaium“? … beschleicht mich der Verdacht, dass wir in Mitteleuropa, vielleicht auch ganz Europa oder im Grunde in der „westlichen Kultur“ eine Art Trägheit erlebten. Eine mehrere Generationen andauernde Linearität des Bequemlichkeitsanstiegs.
Dagegen ist ja nichts zu sagen. Wer möchte nicht darauf hinarbeiten, dass es einem selbst und den eigenen Nachkommen immer besser und besser geht. Das ist ja im Grunde der Motor einer Spezies.
Was nun aber, wenn im Zeichen einer mit nichts zu vergleichenden Pandemie, offengelegt wird, dass wir es von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation immer selbstverständlicher angesehen haben, dass sich die Zukunft linear weiterentwickeln wird?
Kriege?
Finden an weit entfernten Orten statt und wenn sie doch in der Nähe sind, kann mir keiner vorschreiben, nicht in Sichtweite zur Frontlinie meinen Jahresurlaub zu verbringen.
Ressourcenknappheit?
Ja, sicher … da müssen wir darüber nachdenken, aber lass mich erstmal meinen Pool reinigen und mein neues Smartphone online bestellen. Dann können wir gerne mal darüber reden.
Und überhaupt? Was ist denn eigentlich eine Ressource? Das, was ich im Überfluss habe oder das, was ich von woanders abbauen und einkaufen kann?
Ach nein! Der Planet, auf dem ich lebe ist, eine endliche Ressource! Wie? Und nur, weil es immer mehr Menschen auf ihr gibt, soll ich mich einschränken … auf meine linear planbare Zukunft verzichten?
Geht‘s noch? Niemals! Versucht mich doch dazu zu zwingen!
Klimabedingte Katastrophen?
Och … ja, sicher … Desertifikation ist auf jeden Fall schlimm und auch dass der Grundwasserspiegel beständig sinkt ist doof. Das betrifft aber eher die anderen. Ansteigender Meeresspiegel? Ich leb‘ ja nicht an der Küste und überhaupt: die paar Millimeter im Jahr. Sollen die, die‘s betrifft eben ein bisschen ins Landesinnere umziehen. Stürme und Fluten? Bisher hab‘ ich davon nur in den Nachrichten etwas gesehen. Schlimm. Gab‘s aber doch schon immer, oder?
Der Zwang, anderen etwas abzugeben, ist extrem unpopulär. Vor allem in Staaten, die sich jahrhundertelang an der Freiheit ihrer Bürger abgearbeitet haben.
Gut, man könnte ja darauf bauen, dass jede:r freiwillig auf einen kleinen Teil seines/ihres Wohlstands verzichten wird, um Krisen zu überwinden. Aber wie viel ist dieser „kleine Teil“? Und wer achtet darauf? Das Finanzamt? Also in Form von Steuern? Gibt‘s ja irgendwie schon.
Was wir allerdings in aktuellen Krisenzeiten erleben, ist, dass auch wenn man Geld hat, man sich nicht alles damit kaufen kann.
Gesundheit kann man sich nur mittelbar (er-)kaufen. Die Superreichen horten auf ihren Privatanwesen Beatmungsmaschinen für den Fall, dass sie sie irgendwann mal benötigen würden und verdammen damit weniger Betuchte (also eigentlich 99%) im Falle einer Gesundheitssystemüberlastung zum qualvollen Tod.
Zeitweise reichte jedes noch so gefüllte Bankkonto nicht aus, um sich seinen Vorrat an Toilettenpapier zu sichern, weil es einfach keines mehr zu kaufen gab.
Wenn in Krisenzeiten nicht mehr ausreichend qualifizierte Menschen für das Wohl einer ganzen Gesellschaft sorgen können, weil es eben nicht genug solcher Menschen gibt, hat der Markt oder die marktimmanente Gier dazu geführt. Eine Folge wäre, diese Missstände durch staatliche Maßnahmen zu verhindern. Wie eine Art Arbeitslosenversicherung müsste es einen Mechanismus geben, der eine ganze Gesellschaft in solchen Krisenzeiten vor dem Kollaps bewahrt.
Dieser Mechanismus sollte nicht nur aus monetären Rücklagen bestehen. Es gehr vielmehr um die grundsätzliche Beteiligung eines/einer jeden Bürgers/Bürgerin am Gemeinwohl, also dem Wohlergehen der ganzen Gesellschaft.
Ach, das gibt‘s schon? Stimmt … das Ehrenamt.
Völlig unpopulär geworden und marginalisiert, fristet es seit jeher das Dasein einer aussterbenden Spezies.
Wieso sollte man sich auch die Zeit nehmen und seine Arbeitskraft für etwas hergeben, das einem selbst keinen Wohlstand, sprich Geld einbringt? So etwas machen nur fehlgeleitete Gutmenschen mit Realitätsverlust.
Dass, was in Krisenzeiten zu spontaner Solidarität führt, ob zu Zeiten von Dammbrüchen, Flüchtlingsströmen oder eben Pandemien, wäre idealerweise dazu geeignet, dauerhaft eine Gesellschaft zu entlasten … sie zu erhalten … ihr einen (neuen) Sinn zu geben. Sprich: normal zu sein.
Aber wie das eben so ist, der Mensch mag dauerhafte Anstrengung nicht. Man muss es auch mal wieder gut sein lassen und sich auf sich selbst konzentrieren. Solidaritätsreflexe flachen alsbald wieder ab und der alte Trott setzt wieder ein.
Was aber, wenn der alte Trott nicht mehr ausschließlich daraus bestehen würde, an seinen eigenen Wohlstand zu denken? Gut, mal von den wenigen abgesehen, die sowieso ständig an andere denken und eher altruistisch veranlagt sind.
Nehmen wir mal an, für jede:n wäre es völlig normal, einen festgelegten, mit der Gesellschaft ausgehandelten Teil seiner Zeit, Talente, Handlung (=Arbeit) in die Allgemeinheit zu investieren?
Zuerst einmal könnten damit alle Mikrojobs abgedeckt werden und würden nicht mehr zu übelsten Arbeitsverhältnissen führen.
Sicher, es gibt unzählige Jobs, die nur von Spezialkräften und solchen, die über lange Zeiträume ausgebildet worden sind, übernommen werden können. Was aber, wenn sich diese Spezialisten (und dazu zähle ich auch das Pflegepersonal), nicht mehr um die Pflege, sondern um die Verteilung der Tätigkeiten in der Pflege kümmern müssten? Wenn jede:r Pfleger:in zwei Dutzend Ehrenamtliche um sich herum hätte, die seinen/ihren Job machen könnten?
Mal von den Problemen in der Praxis abgesehen, wäre der logistische Aufwand enorm. Was aber, wenn es eine Behörde gäbe, die sich nur um den Einsatz von Ehrenamtlichen kümmern würde?
Ein Amt für das Ehrenamt?
Also eine Instanz, die notwendige Tätigkeiten erfasst und an den/die richtige Mann/Frau bringt.
Das ginge natürlich nur, wenn sich die Gesetzeslage dahingehend ändern würde, dass ein solcher Ehrenamtsanteil einer jeden (!) Arbeitskraft verpflichtend wäre. So etwas wie … der gute, alte Wehrdienst … nur für alle … jeden Alters oder finanziellen Situation … ein Arbeitsleben lang … nach einem fairen Vermittlungsschlüssel.
Die kurzfristigen Konsequenzen liegen auf der Hand:
- Ungleiche Verteilung des „Gesellschaftsdienstes“
- Einschränkungen der Ressourcen, die für den Aufbau des eigenen Wohlstandes vorgesehen sind
- Einschränkungen der Selbstbestimmung
- etc.
Die viel wichtigere Frage lautet aber, was wären die langfristigen Konsequenzen?
Wären damit existenzbedrohliche Krisen besser zu bewältigen? Würde sich damit ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalt erzeugen lassen und die beständig anwachsende Ich-Zuerst-Kultur eine Gegenströmung erfahren?
Ich bin mir nicht sicher, ob es auf lange Sicht die Menschheit weiterbrächte. Sicher bin ich mir aber, dass wir in naher Zukunft mit immer mehr länderübergreifenden Katastrophen rechnen müssen. Sicher bin ich mir auch, dass nicht die Lösung im Protektionismus und im Abschotten, sondern das eigentliche Problem zu finden ist.
Aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, mich mit einem selbstverständlichen Dienst an der Gesellschaft, der dahinterstehenden Logistik und den daraus folgenden, womöglich utopischen Zukünften zu beschäftigen.