Sarah Lutter und Jana Hoffhenke: Hinter Mauern – Fluch oder Segen?

Rezension:

Mauern grenzen ein und schließen gleichzeitig etwas aus. Zu welchem Vorteil es gereicht, auf der einen oder anderen Seite der Mauer zu sein, hängt ganz vom Auge der/des Betrachter*in ab.

Mal findet man Schutz hinter einer Mauer, mal wird hinter den Mauern eine Missetat geplant. Mal wird man durch Mauern eingesperrt und mal wird ein Geheimnis von ihnen bewahrt.

Ob es Menschen, Tiere oder Naturgewalten sind, immer wieder versuchen wir die Trennung von Außerhalb und Innerhalb zu überwinden oder zu bewahren. Mauern erzählen oft Geschichten, doch aus Geschichtsbüchern ist uns nur das bekannt, was niedergeschrieben oder in Kunst oder Architektur überliefert worden ist. Doch ahnten wir nicht schon immer, dass dahinter noch viel mehr schlummert? Geheimnisse, Schicksale und Geschichten, die vielleicht immer im Nebel der Zeit verborgen bleiben?

Die 17 Autorinnen und Autoren der von Sarah Lutter und Jana Hoffhenke kuratierten und mit liebevollen Titelillustrationen versehenen Kurzgeschichten entführen uns auf über 300 Seiten in unterschiedlichste historische Epochen Europas und erwecken nüchterne und uns eher kalt lassende Fakten der Vergangenheit mit dem pulsierenden Leben von realen oder erdachten Menschen Menschen. Wer weiß schon, ob sie nicht genau dieses Leben vor und hinter den Mauern gelebt haben.

Micro-Rezensionen zu den einzelnen Texte:

Die Wütenden von Paris
von Sabine Frambach

Midjourney Prompt: View from a medieval city wall to a distant forest edge, at the edge of the forest you can vaguely recognize a pack of grey wolves, it is bitterly cold winter, dawn, gloomy mood, oil painting with dark colors and rough brushstrokes, high angle --ar 1:1 --v 6.1

Paris 1439 … so beginnt die bitterkalte und düstere Geschichte von Sabine Frambach … in einer Zeit voller Entbehrung und Unsicherheit. Man kennt die Erzählungen besonders kalter und harter Winter, in denen die Wölfe aus ihrer Deckung kommen und immer näher an Menschensiedlungen herankommen.

Midjourney Prompt: close-up of a wolf tooth pendant with a thin leather strap on a bedraggled man in medieval clothing --v 6.1

Doch, geschah das tatsächlich so häufig? Waren Wölfe für unsere Vorfahr*innen wirklich eine omnipräsente Gefahr? Oder wiederholte man diese Geschichten nur immer und immer wieder am wärmenden Kaminfeuer, um vor allem den Jüngeren einen gewissen Respekt vor den Gefahren der Natur und damit eine lebensverlängernde Vorsicht mitzugeben? Offenbar ein noch immer erfolgreicher Schachzug, betrachtet man gegewärtige Diskussionen um Wolfsauswilderungen.
Der Gelehrte Piers ist einer der wenigen, der in der Kurzgeschichte von Sabine Frambach hinter Aberglaube und Gerüchte blickt. Hinter die Beweggründe seines neuen und begabten Schülers Thibaud kann er jedoch nicht blicken. Weshalb interessiert er sich für so vieles, was für einen Jungen seines Alters und Standes eher untypisch ist? Und welche Bedeutung hat Jeanne d’Arc für ihn?

Midjourney Prompt: a black wolfskin hangs on a long stick in the middle of a medieval village square, it is bitterly cold winter, early in the morning, gloomy atmosphere, coal drawing --ar 1:1 --v 6.1


In diesem harten Winter, den vom langen Krieg gequälten Zeiten umd den damit einhergehenden sozialen Herausforderungen im Kampf um Essen und Brennholz verfolgt auch noch so mancher seine eigenen Ziele, die nicht für die Öffentlichkeit oder den hellen Tag bestimmt sind.
Ein spannender Einblick mit Begriffen, Orten, Personen und Objekten aus einer wenig bekannten Epoche und aus Sicht derjenigen, die zur Zuschauerin/ zum Zuschauer, Spielball oder gar Opfer der Mächtigen verdammt sind und trotz aller Widrigkeiten ihr Möglichstes geben, zu überleben und ihrem Leben einen Sinn zu geben.
Die Stimmung hätte mich persönlich noch mehr gepackt, wäre der Schreibstil durch weniger knappe Sätze geprägt, was aber womöglich ein stilistisches Mittel ist, um die bittere Kälte, das Frieren der Menschen und die damit verbundene Kurzangebundenheit zu vermitteln.

Seelen aus Stein
von Maximilian Wust

Midjourney Prompt: raw oil painting, Prague in the 14th century, view over the city in autumn at dawn --ar 1:1 --v 6.1

Prag im frühen 14. Jahrhundert.

Ein Brief stellt das Leben von Karlian Hochbaut von einem Moment auf den anderen auf den Kopf, just in dem Moment, als er mit demselbigen gerade abzuschließen gedachte. Überstürzt und ohne Zögern reitet er nach Prag, die Stadt die einst sein Leben war und beinahe auch seinen Tod wollte. Er begibt sich auf die Suche nach jemandem, der ihm einst nahestand und reist dabei in seine eigene, dunkle Vergangenheit.

Midjourney Prompt: a vaguely recognizable very tall man in a dark alley with cobblestones, by night, charcoal drawing --ar 1:1 --v 6.1

Eine spannende und überaus abwechslungsreiche Jagd durch die Gassen von Prag. Maximilian Wust entführt uns in die Unterwelt einer Stadt, die ihre eigenen Gesetze hat und in der schon ein kleiner Fehler dazu führen kann, für immer zu verschwinden. Sehr schön ausgearbeitete Charaktere und überaus mitreißende Handlung mit so mancher Überraschung.

Midjourney Prompt: a dilapidated elderly man with somewhat protruding teeth and a narrow face and stained clothes, standing in a low house entrance, dark and old walls, eerie atmosphere --ar 1:1 --v 6.1

Ein historischer Kurzgeschichtenthriller, der geradezu nach einem Prequel und Sequel schreit.

Midjourney Prompt: a very tall man in a black coat sits on a chair in a small monastery cell with an old stately abbess sitting on a chair, on a small table stands a candle --ar 1:1 --v 6.1

Das große Sterben
von Wolfgang Kemmer

Augsburg um 1348.
In einer Zeit, als zwei schreckliche Ereignisse die Stadt heimsuchten, versucht Conrath den Tag zu überleben, um noch eine Sache zu erledigen.

Midjourney Prompt: a young man in tattered and dirty clothes stumbles through the streets of a german town in the late middle ages, the alleys are littered with lying people, plague fumes waft through the streets, very gloomy atmosphere, smoke and small fires line the streets, low angle --ar 1:1 --v 6.1

Beide Ereignisse hängen eng miteinander zusammen. Während die nach Macht gierenden Neider einen fiktiven Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der Pest und der Anwesenheit der Juden konstruieren, bedingt die Angst und Panik der Menschen im stickigen Dunst der Seuche menschenverachtende Greueltaten gegen Gläubige einer nicht christlichen Religion. Wie sich dabei die Rolle des mittellosen Conrath im Grau zwischen Opfer und Täter entwickelt, erzählt Wolfgang Kemmer in eindrucksvoller Weise. Es wird der/dem Lesenden vor Augen geführt, wie eine scheinbar bedeutungslose Nebenfigur zum Funken eines Flächenbrandes werden kann. Nur allzu klar wird, wie sich die Situationen zwischen damals und heute erschreckend ähnlich sind. Auch diejenigen, die im Grunde nichts Böses im Schilde führen, können durch ihr Tun oder Nichtstun dem Bösen die Tore öffnen. Mitte des 14. Jahrhunderts sollte nicht das letzte Mal sein, dass sowohl die Pest als auch Judenpogrome unwahrscheinlich viele Menschenleben vernichten sollten.

Midjourney Prompt: dungeons & dragons style, a mob of people stands on a late medieval marketplace and roars in the direction of a pedestal, on the pedestal a large wagon wheel, the streets are littered with lying people, plague fumes waft through the streets, very gloomy atmosphere, smoke and small fires line the streets, low angle --ar 1:1 --v 6.1

Rachegeist
von Ute Zembsch

Eine intelligente (Adels-)frau in einer von tumben Männern dominierten Welt … woher kennt man das Setting bloß? 😉

Midjourney Prompt: A young noblewoman stands on the battlements of Reichelsheim Castle in the Middle Ages, looking onto a field with an army of medieval besieging soldiers --v 6.1

Schlachten werden in Geschichtsbüchern meistens vor oder an Festungen geschlagen. Die wahren Entscheidungen und Schicksale spielen sich allerdings immer im Inneren der Mauern statt.
Eine True Crime Story während einer Belagerung im 13. Jahrhundert, gekleidet in ein unterhaltsames Kammerspiel über Hass, Neid, Treue und Liebe.

Midjourney Prompt: chalk drawing, a dark spiral staircase in a castle tower, a person runs downstairs, the back of a person in a medieval robe with only his shoes visible, closeup of the shoes, dynamic, indistinct, eerie atmosphere --v 6.1

Der Rattenkönig von Metz
von Isabella Benz

Die Sphäre des einfachen Volks und die der Reichen und Mächtigen trafen sich wie wohl schon immer so auch im Mittelalter nicht wirklich häufig. Welchen Einfluss beide Welten aufeinander haben (können) zeigt Isabella Benz, indem sie um eine Diebesbande im spätmittelalterlichen Metz à la Ocean’s Eleven kreiert, die einen lang vorbereiteten Coup, der beide Lebensbereiche sich für eine kurze Zeit überschneiden lässt und die ganze Stadt Metz beschäftigt.

Midjourney Prompt: black and white drawing, The king of the rats stands on a pedestal in front of other rats in a dark alley of a medieval town --v 6.1


Eine rasante und am Ende überraschende Kurzgeschichte, die so lebhaft erzählt ist, dass man keine Mühe hat, sich die Szenerie wie in einem Actionthriller vorzustellen.

Midjourney Prompt: the hand of a young female woman holds a small leather pouch for coins and hides it like a thief, close-up, in a busy alley of a medieval town --v 6.1

Himmelslicht
von Christine Kulgart

Die älteste Täter-Opfer-Umkehr der Menschheitsgeschichte. Mann vergewaltigt Frau. Frau schämt sich. Mann kommt straffrei davon. Frau wird schwanger. Frau versucht abzutreiben. Frau wird lebensgefährlich verletzt. Frau denkt, eine Sünderin zu sein. Gesellschaft bestraft Frau und verstößt sie.
Was sich wie ein Spoiler liest, ist nur ein kurzes Schlaglicht der eindrucksvollen Kurzgeschichte von Christine Kulgart über eine junge, Hilfe suchende Frau..

Midjourney Prompt: A robed man's hand lies on the upper arm of a young woman with black hair, medieval fireworks in the background, dark village alley, at night, eerie atmosphere --v 6.1

Trotz gesellschaftlicher Weiterentwicklung ist die Haltung gegenüber Frauen, die von Männern vergewaltigt werden, noch immer auf dem Stand archaischer Zivilisationen. Statt Täter zu verurteilen, werden die Opfer von Gesetzeshütern, Religionsführern, Politikern und dem einfachen Nachbarn zu Mittäterinnen gemacht, ihnen die Schuld an der Tat und den Folgen gegeben und sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder getötet. Auch wenn die bedrückende Geschichte um Elena in spätmittelalterlicher Zeit stattfindet, hat sie erschreckenderweise so rein gar nichts an Aktualität verloren. Da ist die Debatte um die von der Krankenkasse zu übernehmenden Pille danach bei Vergewaltigungsopfern wirklich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Midjourney Prompt: A young woman in a cloak lies on the 7 steps of an old church, view of the back of the woman, at night, old wooden church door, very low angle --v 6.1

Gott schütze diese Mauern
von Tanja Brink

Fanatismus, gleichgültig ob religiös oder säkular, neigt dazu, nicht über sich zu reflektieren, alle Argumente gegen die Doktrin abzuschmettern und jedes noch so zufällig oder herbeigeführte Ereignis, das der Doktrin Argumente liefert, als “Zeichen” einer übergeordneten Macht zu deuten.
Wie nach vielen Jahren die Wahrheit über einen Mord und weitere Greueltaten dann doch ans Licht kommen, zeigt die fesselnde Kurzgeschichte von Tanja Brink.
Im Kloster Clonard auf Irland Mitte des 6. Jahrhunderts scheint alles seinen geregelten Gang zu gehen und die Glaubensgemeinschaft sogar zu florieren. Der Besuch eines jungen Mönchs stößt allerdings Ereignisse an, die eine dunkle Vergangenheit aus der Gründungszeit des Klosters zum Vorschein bringt.
Eine schöne und auch spannende Krimi-/Mystery-Kurzgeschichte an einem historischen Ort des Frühmittelalters mit sich überschlagenden Wendungen am Ende, in der die beharrliche Suche nach der Wahrheit doch zum Erfolg führt.

Midjourney Prompt: a monk in a dark robe walks along a monastery wall of an early medieval monastery, the moon shines in the night sky, gloomy atmosphere --v 6.1

Ergreift den Falken!
von Ulrike Stutzky

Neben großen Schlachten, waren in mittelalterlicher Zeiten nicht nur Seuchen das Schreckgespenst, das Burgen und ganze Städte erzittern ließ. Auch Feuersbrünste konnten in einer Nacht unzählige Menschenleben kosten und mühsam erbaute Wohnstätten mit einem Funken vernichten.
Ulrike Stutzky lässt uns den Schwächsten, den Waisenkinder, über die Schulter schauen, während die heute bevölkerungsreichste Stadt der EU, als sie noch ihren Zwilling Cölln am anderen Spreeufer hatte, durch Mordbrenner eines ruchlosen Ritters in Angst und Schrecken versetzt wurde. Und wie bei Schlachten, Seuchen und Naturkatastrophen üblich, kennen auch Großbrände keine Unterschiede bei ihrem vernichtenden Werk.
Bedrückend realistische Reise ins verletzliche Berlin des Spätmittelalters.

Midjourney Prompt: oil painting, a late medieval town berlin on a riverbank at night, the town is burning and the orange-red glow of the conflagration lights up the horizon, the silhouettes of many people stand on the riverbank, panorama view --v 6.1

Aveline, Lilou und die Lilien
von Michael Schwendinger

Midjourney Prompt: drawing, a 15-year-old girl in simple medieval clothing holds a small straw doll in her hand, the straw doll has a beige dress with small scraps of fabric Joan of Arc stands in front of the girl in armor and smiles at the girl --style raw

Die Belagerung und Befreiung von Orleans aus dem Blickwinkel eines Mädchens, das sich mit ihrem Vater hinter den Stadtmauern Schutz erhoffte und den Hunger fand. Schnell wurden Vater und Tochter getrennt, da alle Männer zur Verteidigung der Stadtmauern benötigt wurden. Die Mauern, die sie zwar vor den Engländern beschützen, sperrten sie aber auch in der Hungerfalle ein.
Michael Schwendinger erzählt vom Erwachsenwerden einer jungen Frau während der fast einjährigen Belagerung von Orléans durch Männer, den gescheiterten Versuchen von Männern, die Aggressoren zu besiegen bis endlich zu ihrer Befreiung durch eine Frau, Jeanne d’Arc.
Eine Coming-of-Age-Story der anderen Art.

Midjourney Prompt: watercolour, The city walls of Orléans in the late Middle Ages besieged by a huge army of Englishmen, view of the city from outside, bird's eye view, winter, rising smoke in the army camps in the fields outside the city --v 6.1

Die Zehnte
von Antonia Dorah

Berufe mit Tätigkeiten, die besonders schmutzig sind oder das widerspiegeln, was die Gesellschaft einfordert, aber niemand gerne oder freiwillig tut, haben die Tendenz, verachtet zu werden, gleichwohl alle darauf angewiesen sind, dass jemand sie ausübt. Es ist schon bemerkenswert, wie diese Doppelmoral sich nicht ausmerzen lässt. Was heute die/der Leichenbestatter*in, Abfallentsorger*in oder Gerichtsvollzieher*in ist, war im Spätmittelalter u.a. der Henker.

Obgleich er selbst nicht das Urteil fällte oder gar etwas mit der Tat der/des Verurteilten zu tun hatte, war der Beruf wenig geachtet. Eher im Gegenteil wurden die diesen Beruf Ausübenden gemieden oder verabscheut. Wohl auch, weil den Menschen unterbewusst nur allzu klar war, dass der Henker allen den Spiegel der eigenen Gesellschaft vor Augen hielt.

Antonia Dorah bietet in ihrer Kurzgeschichte Einblicke in das Verhalten der Öffentlichkeit diesem Beruf gegenüber und zeigt, wie das Innenleben des Henkers als Mensch hat aussehen können. Sie zeigt auch, dass jede*r mit all ihren/seinen Stärken und Schwächen in seinem kleinen Umfeld versuchen kann, Gutes zu tun. Manchmal klappt es, manchmal bleibt es beim Versuch und manchmal wird allein schon der Versuch belohnt.

Midjourney Prompt: oil painting, a large executioner's sword with a round tip lies on the loading area of a horse-drawn cart with a leather tarpaulin, the sword peeks out from under the tarpaulin, the cart stands in a street of a medieval town, smoke rises in the distance --style raw --v 6.1

Das schwarze Kreuz
von Yngra Wieland

Arrangierte Ehen waren in adligen und/oder reichen Familien gang und gäbe und dienten von jeher der Stabilisierung und Erweiterung von Einfluss und Macht. Liebesheiraten waren eher selten und zufälliger Natur. Ganz besonders galt das für die Königshäuser, wo nicht selten eine Heirat einen Krieg verhindern oder beenden, andererseits auch einen provozieren konnte. All das wissen wir aus historischen Dokumenten und der unermüdlichen Arbeit von Historiker*innen.

Wie genau aber es in den Herzen und Köpfen der oft wie Spielfiguren einer Dynastie eingesetzten Menschen aussah, erfahren wir nur selten aus den Geschichtsbüchern.
Yngra Wieland erzählt uns einfühlsam ein wahrscheinlich eher rares Beispiel einer arrangierten Ehe von Kindern königlichen Geblühts im Osten Europas, die mit tatsächlichen Gefühlen einherging. Dass allerdings auch eine solche Verbindungen im komplexen Geflecht machtgetriebener Interessen dazu bestimmt ist, persönliches Glück nur außerhalb der höfischen Mauern zu finden, macht deutlich, dass selbst ehrliche Gefühle nicht dazu imstande waren, derlei Verbindungen wahr werden zu lassen.

Midjourney Prompt: a very small medieval peasant cottage in a snow-free forest by night, it is beginning to snow, Wawel Castle can be seen far in the background, d&d style --v 6.1

Die Hebamme
von Caroline Seeger

Dass ein Berufsstand so notwendig und gleichzeitig so wenig angesehen war, wie der der Hebamme, ist wohl auch der Hybris toxischer Männlichkeit zuzuschreiben. Wenn der Stammhalter (männlich, natürlich) die eigene Geburt nicht überlebt, kann es selbstredend nur zwei mögliche Schuldige geben: die Mutter oder die Hebamme. Da früher nicht selten die Mutter selbst den extremen Bedingungen einer Geburt zum Opfer fiel, war die einzige Person, die im Fall einer erfolgreichen Geburt für ihre Tätigkeit entlohnt und womöglich gelobt, im ungünstigsten Fall aber auch für den Schicksalsschlag als Hexe verbrannt worden wäre, die Hebamme.
Caroline Seeger ermächtigt in diesem Spiel, in dem die Frau(en) nur verlieren konnten, geschickt und einfühlsam ihre Protagonistin zum finalen Akt, der vergangenes und gegenwärtiges Unrecht (unter billigender Inkaufnahme eines nicht unerheblichen Kollateralschadens) bestraft, ohne dass sich die sonst omnipotente Männlichkeit zur Wehr setzen könnte. Ich denke, Justitia würde hierfür ein zustimmendes Schmunzeln übrig haben.
Eine schön erzählte Geschichte über die viel zu selten herbeigeführte Genugtuung vom Unrecht gegenüber Frauen … nicht nur im Spätmittelalter.

Nachtwandler
von Christian Tobias Krug

Midjourney Prompt: A dark gothic castle with pointed towers and high battlements, massive iron doors secured with large chains and padlock, windows shaped like hollow skull eye sockets, snow-covered grounds on a frigid winter night, small horse-drawn carriage at entrance, dramatic moonlight, mist rising from frozen moat, gargoyles on walls, wrought iron details, architectural features in dark stone, distant howling wolves, ominous atmosphere, cinematic lighting, 8k, hyperrealistic, dark fantasy style --v 6.1

Die Angst vor dem Anderen und der Fremdartigkeit ist wohl eine der ältesten Emotionen des Menschen. Was prinzipiell ein Überlebensvorteil sein kann und vor potentiellen Gefahren schützen soll, trägt beizeiten Blüten, die zu giftigen Früchten führen, denn was geschieht mit der Angst, wenn das Andere gar keine Gefahr darstellt? Statt die Angst abzulegen und das Andere kennenzulernen, kreiert der Mensch reflexhaft falsche oder Scheinargumente, die die Angst trotz Gefahrlosigkeit aufrecht halten soll.

Es gibt im Grunde mehrere Verhaltensweisen, die dem Gefühl der Angst folgen können: Flucht, Neugier oder Ablehnung. Bei allen Optionen generiert unser Gehirn Bilder und Vorstellungen, um die Reaktion einzuordnen, um damit klarzukommen. Besonders kreativ werden wir Menschen, wenn wir anderen von unseren emotionsbeladenen Vorstellungen erzählen, wobei wir es häufig mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen. Statt davon zu erzählen, wie unfähig wir sind, uns unseren Ängsten zu stellen, kehren wir die Realität um und schildern eine fiktionale Bedrohungslage, die es zu meiden oder zu bekämpfen gilt.

Eine solche Geschichte erzählt Christian Tobias Krug und verarbeitet die Reaktion des “Dummvolks” auf ein seltenes Phänomen. Es ist verbunden mit dem Schicksal eines kleinen adligen Jungen, der einsam und isoliert sein Leben auf einer von hohen Mauern umgebenen Burg fristet, während jenseits der Mauern die ängstlichen Menschen versuchen, sich das Unbekannte mit Schauergeschichten zu erklären. In spätmittelalterlich anmutender Sprache schildert Krug spannend, wie Unwissenheit zu Angst und Schrecken führt, manches Mal aber auch zu Verständnis und schließlich zu Freundschaft.

Midjourney Prompt: A close-up of a very pale white hand of a 10-year-old boy in aristocratic fine clothes lying on the somewhat dirty hand of another 10-year-old boy in poor clothes --v 6.1

Küstenstädte waren auch im Spätmittelalter Orte, in denen der Wohlstand gedieh. Der Handel über zum Beispiel die Nordsee brachte diesen Städten Waren und Reichtum und führte zu immer größeren Siedlungen. Nicht nur die Begehrlichkeiten missgünstiger Nachbarn bedrohten aber diese Orte. Auch die Natur selbst erinnerte die sich in bequemer Sicherheit wiegenden Menschen beizeiten daran, dass alles vergänglich und in einer Nacht vorbei sein kann.
Vom 11. bis ins 16. Jahrhundert sind über 50 Sturmfluten an der Nordseeküste bekannt. Einige veränderten “nur” die Küstenlinie, andere löschten ganze Orte aus. Dass solche Naturereignisse zu Katastrophen führten, weil der Mensch sich überschätzte und zu weit ans Meer wagte, und die überlebende Bevölkerung zutiefst traumatisierten, kann man leicht nachvollziehen. 

Sobald das Wasser sich zurückgezogen hatte, wurde gern nach Ursachen und Schuldigen gesucht und nicht selten entstanden Legenden über menschliche Verfehlungen und prompt darauf folgende göttliche Strafen, die bis heute überliefert sind.
Vielleicht war die tatsächliche Ursache der Katastrophe aber womöglich nur eine kleine, unbedeutende Maßnahme, die eine ungeahnt große Wirkung hatte. Manchmal war diese Wirkung sogar extrem verheerend, vor allem dann, wenn mehrere Zufälle zeitgleich eintrafen.

Midjourney Prompt: View from the high city walls of a late medieval coastal town of a night-time storm surge, lots of rain and windswept waves, a gloomy and threatening atmosphere, unreal engine --profile anxa1np --v 7

Tatjana Stöckler stellt bei einer solchen Katastrophe eine junge und überaus trotzige Frau in den Mittelpunkt, deren Vater nicht nur König einer nicht benannten Küstenstadt auf einer rungholdesken Insel war, sondern auch dazu tendierte, die Zukunft seiner Tochter zu beherrschen versuchte. Sie erzählt spannend in einer Coming-of-Age-Geschichte der anderen Art, wie der strenge Vater leider nicht mit der Hartnäckigkeit und dem Erfindungsreichtum einer die Freiheit und das Leben liebenden jungen Frau rechnete, die einfach nicht das machen wollte, was ihre Eltern für sie vorgesehen hatten. Fatalerweise verschwendete sie zugleich keinen Gedanken daran (was nicht zwangsläufig das “Vorrecht” der Jugend ist), welche Folgen ihre kleine Rebellion für ihr eigenes Leben und das vieler anderer Menschen haben könnte.

Auch in dieser Geschichte mag die Schuldfrage rasch beantwortet zu sein, doch womöglich wäre man damit zu vorschnell und es verhält sich doch etwas komplizierter? Teägt wirklich das Kind die Schuld … oder vielleicht doch der Vater? Wie so oft, kratzen die einfachen Antworten nur an der Oberfläche und verbergen eine viel komplexere Ursache … nämlich die weit verbreitete Hybris der Menschen zu glauben, sie könnten die Natur beherrschen und überlisten. 

Trutz, Blanke Hans.

Bündnisse
von Jeannette Kreiser

Midjourney Prompt: A breathtaking Spanish-Moorish courtyard bathed in soft moonlight, with intricate horseshoe arches and delicate filigree stonework made of red bricks adorning the walls. On the left, a serene garden showcases small blooming orange trees with bright fruits and white blossoms, arranged around an elaborate marble fountain where water trickles melodically. Silber moonlight is shining in the garden. Geometric patterns of colorful azulejo tiles pave the pathways between carefully trimmed hedges and fragrant jasmine. On the right, a magnificent hall opens through a series of ornate Moorish arches with complex muqarnas honeycomb details and inlaid cedar doors. Shadows dance across the carved plasterwork and polished marble columns as golden sunlight filters through latticed screens above. The peaceful atmosphere is enhanced by reflections in the still water of the central fountain --raw --profile anxa1np --stylize 950 --v 7

Das Leben auf der Straße war schon immer der Inbegriff der Freiheit. Jederzeit dorthin zu gehen, wohin man möchte, unabhängig zu sein. Zugleich bedeutet(e) es aber auch von jeher fehlender Schutz, Unsicherheit und latenten Tod.
Eine Diebin im spätmittelalterlichen Granada muss dies am eigenen Leib erfahren, als sie in die Machenschaften intriganter Menschen gerät, die im wörtlichen Sinne über Leichen gehen, um ihre düsteren Ziele zu erreichen. Zum Glück existiert hinter roten Mauern ein geschützter Raum mit Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Leben zu retten, statt sie zu zerstören.

Jeannette Kreiser erzählt ein rasantes Abenteuer in den Gassen von Granada und hinter den Mauern der Alhambra, wo unerwartete Hilfe mehr als nur ein Leben rettet und einen Bund fürs Leben geschlossen wird.

Von Ratten und Menschen
von Christoph Grimm

Der Schein trügt öfter als man denkt.

Wenn sich plötzlich dort Ratten blicken lassen, wo sonst keine sind, ist das nicht nur ärgerlich, sondern hat immer auch einen Grund, der nicht immer offensichtlich ist.
Wir sind immer schnell bei der Hand, einen scheinbar ehrlosen oder verruchten Menschen als Ratte zu beschimpfen, ohne tatsächlich genau zu wissen, ob der Anschein der Wahrheit entspricht und nicht zu vergessen, wir damit nicht nur der namensgebenden Ratte Unrecht antun.

Christoph Grimm erzählt eine spannende Geschichte aus dem spätmittelalterlichen Alltag eines jungen Torwächters und einer älteren Köchin, über vermeintliche und tatsächliche menschliche “Ratten” und über echte Ratten, die unabsichtlich der Wahrheitsfindung dienen.

Des einen Leid
von Sarah Lutter