Der vernetzte Mensch

kategorie_digitalEs ist an der Zeit zuzugeben, dass wir in ein neues Stadium der Kulturgeschichte eingetaucht sind. Wir verlassen die Pfade des homo oeconomicus zusehends und lernen unsere altruistische Seite kennen, indem wir uns scheinbar selbstlos am Befüllen von social communities beteiligen. Das Dasein als homo ludens macht uns auf Dauer nicht wirklich zufrieden, es sei denn, man hat seine Aufgabe im 24-Stunden-Zocken gefunden. Dass, was wir in dieser kommunikationstechnologischen Welt gemeinsam haben, ist also weder das Geld noch das Spiel, sondern die Vernetzung.

Ein jeder, der sich im Cyberspace bewegt, wie immersiv auch immer die Plattform sein mag, ist ein homo interretiatus. Da ich nicht wirklich des Lateinischen mächtig bin, danke ich auf diesem Weg Dr. Bettina Bock1 vom Lehrstuhl für Indogermanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena für die Erlaubnis, diesen Ausdruck verwenden zu dürfen. Eigenmächtigerweise verzichte ich auf den Suffix ‘sapiens sapiens’, denn ein vernetzter Mensch ist aus meiner eigenen leidvollen Erfahrung nicht zwangsläufig auch vernunftbegabt.

Möge der homo interretiatus einen Sinn in seiner Existenz finden.


1 “[…] Wie heißt der vernetzte Mensch auf lateinisch?

Da net und web echt germanische Wörter sind, gibt es dazu kein verwandten Wörter im Lateinischen, die irgendwie ähnlich klingen. Bei der Suche nach einem lateinischen Ausdruck bieten sich zunächst verschiedene Wörter für verbinden an:

coniungere ‚verbinden‘ – homo sapiens sapiens coniunctus

Problem: coniunctus ‚verbunden‘ wird im Lateinischen für Eheleute gebraucht (wörtlich ‚zusammen ins (Ehe)Joch gestellt‘). Zudem ist es durch Konjunktion, Konjunktiv usw. schon in eine gewisse Fremdwortecke gedrängt worden.

con(n)ectere ‚verknüpfen‘ – homo sapiens sapiens connexus

Problem: Das Fremdwort connection, das zu connexus ‚verknüpft‘ gehört, ist schon besetzt, zudem z. T. mit einer pejorativen Nuance. Neutraler, aber ebenfalls besetzt sind Konnex u. a.

contexere ‚verweben‘ – homo sapiens sapiens contextus

Problem: Auch Kontext (wörtlich ‚Verwebtes‘) gibt es bereits. Außerdem ist texten bei uns eher synonym für schreiben/sprechen als für weben (obgleich immerhin noch in den Textilien in der ursprünglichen Bedeutung vorhanden).

Die lateinischen Wörter der Bedeutung verbinden eignen sich demnach nicht für den gewünschten Zweck. So bleibt das Wort für Netz übrig.

rete/reticulum ‚Netz‘, davon nach den Regeln der lateinischen Wortbildung abgeleitet: retiatus ‚mit Netz(en) versehen‘ (wie barbatus ‚mit Bart versehen‘) – homo sapiens sapiens retiatus

Problem: retiatus klingt nicht so richtig gut lateinisch. Denn wer kennt schon rete? Allerdings finden sich Weiterbildungen zu reticulum in verschiedenen Fachsprachen.

Was brauchen wir also? Ein Wort, das gut lateinisch klingt, sauber ableitbar ist und das meint, was hinter vernetzter Mensch steht. Zuerst könnte man an homo sapiens sapiens internuntiatus denken. Aber bei der genauen Analyse stellte sich heraus, dass die Wortbildung nicht stimmt: Richtig ist internuntians ‚untereinander Botschaften austauschend‘, in Anlehnung an nuntius ‚Bote‘, der ja vom päpstlichen Nuntius her vertraut ist.

Warum aber klingt internuntiatus so gut? Weil es die vom Internet bekannte Vorsilbe inter- ‚zwischen‘ hat und zudem ein Wort mit Rhythmus ist. Beide Vorteile kann man haben, wenn man interretiatus bildet:

HOMO SAPIENS SAPIENS INTERRETIATUS
‚der vernunftbegabte, vernunftbegabte, untereinander mit Netzen versehene Mensch‘

Die Betonung ergibt dabei einen schönen Rhythmus aus betonter und unbetonter Silbe, einen sogenannten Trochäus:

[hómo sápjens sápjens ínterrétiátus] […]”
http://ulblin01.thulb.uni-jena.de/indogermanistik/index.php?auswahl=117&ident=LE_0455d4454f73fd7, 5. Januar 2008 (inzwischen offline)


Zitat im Header: GOETHE, J. W. v.: Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. In: GOETHE, J. W. v.: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Reprint von 1890, Weimar. Bd. 64: II. Abtheilung. Goethes naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 1. Tokyo, Tübingen 1975. S. 373f.

 

[zuerst veröffentlicht bei http://interretiatus.wordpress.com]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.